Solipsismus und anderes

Solipsismus und anderes.


Weil da bei Holm Egidy von Realismus und Solipsismus die Rede war, noch mal zu dem melancholischen Buchhalter Fernando Pessoa und sein „Buch der Unruhe“. In der im vorhergehenden blog schon zitierten Ausgabe (Ammann) steht auf Seite 308 folgender Satz: „ Niemand, vermute ich, gesteht einem anderen Menschen wirklich wahre Existenz zu. Er mag einräumen, dass dieser Mensch lebendig ist, dass er fühlt und denkt wie er, aber es wird da immer ein namenloses Etwas des Unterschieds, ein materialisierte Benachteiligung bestehen.“

Und später „ So manch literarische Gestalt, so manch bildliche Darstellung steht mir näher, ist mir verwandter und vertrauter als viele der sogenannten wirklichen Menschen mit ihrer metaphysischen, Fleisch und Blut genannten Nutzlosigkeit. ......... Ich schäme mich dieser Gefühle nicht, denn ich habe festgestellt, dass alle so fühlen.“ Kurzfristig scheint dann die Tür zu einer anderen Existenzen aufzugehen, und zwar durch die Nachricht über den Selbstmord des Angestellten im Tabakladen: da war ein fühlende Mensch, aber er ist schon nicht mehr. „Der Fluss meines Lebens endet in einem inneren Meer...“ (S. 311).

Gut, man mag das eine pessimistische Weltsicht nennen und zur Privatsache dieses Schriftstellers erklären, der seinen heute großen Ruhm erst posthum erlangt hat. Auf der Rückseite des Covers wird jedoch von einem „Jahrhundertbuch“ gesprochen, von „einem der berühmtesten Werke der modernen Literatur“ auf dessen Seiten „unsere Sache abgehandelt“ wird.

Gesetzt den Fall, das Lektorat des Ammann-Verlages will nicht nur Reklame machen für ihren Neudruck, sondern hat irgendwie Recht: wie kommt Pessoa zu diesem Ruhm mit einem Buch, das wahrscheinlich kaum jemand ganz gelesen hat, weil es so bedrückend ist – ich jedenfalls kann aus diesem Grund nicht lange darin lesen? Wird hier tatsächlich „unsere Sache abgehandelt“, wie Curt Meyer-Clason auf dem cover zitiert ist? Und was ist „unsere Sache“? -

Ist „unsere Sache“ womöglich dieser radikale Konstruktivismus, der hinter derartigen Sätzen steht? Die berühmte „Wahrnehmungsglocke“ des Solipsismus, die über jeden Einzelnen gestülpt ist, mit wenig Chancen, darüber hinaus etwas wahrzunehmen geschweige denn zu fühlen. Ist das tatsächlich so weit verbreitet, dass es zu „unserer Sache“ geworden ist? Aus Pessoas müder Melancholie zu schließen ist das nicht eigentlich eher eine Katastrophe, als ein wünschenswerter Zustand.


Wahrscheinlich habt ihr, liebe Leserinnen und Leser, längst gemerkt, woher der Wind weht: da spricht eine eingefleischte Therapeutin, zu deren Beruf es gehört, Weltsichten ganz simpel danach abzuklopfen, in wie weit sie dem, der sie hat helfen, mit dem Leben besser zurecht zu kommen. Da schneidet die „konstruktivistische Sicht“ streckenweise ja gut ab, denn sie hat ein beachtliches „therapeutisches Potential“, wie ich das in meinen aktiven Zeiten öfter genannt habe. Aber das offensichtlich seine Grenzen.

Eigentlich ist´s genug für heute. Aber etwas muss ich noch los werden: ehe ich zu schreiben anfing, habe ich in Pessaos Buch geblättert und bin auf Seite 220 auf folgende Äußerungen gestoßen, die unmíttelbar nebeneinander stehen, so wie ich sie wiedergebe:

„Ich bin älter als Zeit und Raum, denn ich bin bewusst. Die Dinge stammen ab von mir; die Natur ist die Erstgeborene meiner Empfindungen.

Dann, nach einem kurzen Zwischensatz:

„Ohne mich geht die Sonne auf und erlischt. Ohne mich fällt der Regen und heult der Wind. Nicht meinetwegen gibt es Jahreszeiten, Monate, Stunden, die vergehen.“

„Oszilliert“ hier jemand, zwischen „Solipsismus und Realismus“? – Ist DAS vielleicht „unsere Sache“? Sollte man vielleicht als wichtig und typisch für „das Drama im Menschen“ (Zitat cover) ansehen, und die melancholische Müdigkeit und Handlungsunfähigkeit dem alten Portugiesen einfach lassen?


Gestern fiel in der Kulturzeit von 3sat Fernsehen der bekannte Satz: „Alles ist mit allem verbunden“ zusammen mit der Bemerkung, dass ihn jeder kenne. Ist auch diese Kurzversion der „systemische Sicht“ tatsächlich zum Allgemeingut geworden? Selbst wenn es so ist: In der Praxis des Alltags ist zu mindesten meist wenig davon zu merken. Oder vielleicht doch - manchmal? –

„Wissen täte man´s schon, aber zu tun hat man´s dann vergessen.“