Semantik und Funktion des Dopingverbots

Um „Heuchelei“ ging es in meinen gestrigen Beitrag zur Empörung über „Schockfotos“ aus Afghanistan, um „Heuchelei“ geht es auch heute – am Beispiel der endlosen Reihe von Dopingskandalen, die den Radsport in den letzten Jahren erschüttert haben. Denken wir an die letzte Tour de France mit ihren massenhaften Ausschlüssen; denken wir an das deutsche Radsport-Idol Jan Ullrich, der von seinem Arbeitgeber T-Mobile aufgrund von Dopingverdacht entlassen wurde, oder denken wir an die nicht abreissenden Doping-Verdächtigungen gegen den Dominator des letzten Radsportjahrzehnts, Lance Armstrong.


Das Interessante an diesen Affären sind für mich nicht die bewiesenen oder unterstellten Betrugsversuche der genannten und anderer Radfahrer. Ich bin seit Jahren (spätestens seit dem Toursieg des Spaniers Pedro Delgado in den 80er-Jahren) überzeugt, dass sich nur noch eine verschwindend kleine Minderheit im Profiradsport leisten kann, die ungeheuren Strapazen der grossen Rundfahrten und auch der Eintagesrennen ohne unerlaubte Mittel durchzustehen. Die kontinuierliche Steigerung der Durchschnittsgeschwindigkeit bei der Tour de France (seit Mitte der 70er-Jahre um von ca. 35kmh auf über 40kmh seit dem Jahr 2000 ist mit gesteigertem Training und verbessertem Material allein nicht zu erklären – zu gross sind die Fortschritte, zu häufig auch die Dopingbefunde.


Es wird also gedopt im Radsport. Das System des professionellen Radsports reagiert auf diesen zur Binsenwahrheit verkommenen Befund mit der alten Strategie des Mehr-Desselben. Mehr und strengere Kontrollen, mehr und härtere Strafen, mehr und eindringlichere Aufrufe an die Radfahrer, ihren Sport ‚sauber’ zu halten. Es ist ähnlich – um nicht zu sagen: identisch – wie in der Drogenpolitik, auf die ich morgen näher eingehen werde: Wenn Verbote nicht funktionieren, werden die Massnahmen durch strengere Massnahmen ersetzt, und wenn das nichts hilft, folgt eine weitere Modifikation, die das Problem erneut nicht behebt. Bei alledem bleibt die grundsätzliche Problemlösung – das Dopingverbot – trotz massiver ungünstiger Nebenwirkungen unbestritten.


Angesichts dieser festgefahrenen Situation bietet sich in bewährter systemtheoretischer Manier an, nach der eigentlichen Funktion des Dopingverbots zu fragen. Oder als Frage formuliert: Welches Problem lässt sich konstruieren, für das das Dopingverbot als Lösung verkauft wird? Die ‚offizielle’ Antwort kennen wir: Radfahren ist wie jeder Sport ‚fair’ und ‚gesund’. Wer gegen das Gebot der Fairness verstösst wird bestraft. Beim Radsport befinden wir uns derzeit (mehr als bei den meisten andern professionellen Sportarten) in einer Phase, wo diese Semantik kaum noch aufrechterhalten werden kann – zu offensichtlich ist in den letzten Jahren geworden, dass der Radsport weder mit Fairness noch mit Gesundheit viel zu tun hat.


Wenn wir die Frage beantworten wollen, warum die Verbotslösung aller Misserfolge zum Trotz aufrecht erhalten wird, dann liegt es nahe, nach andern möglichen Problemen zu fragen, für die das Dopingverbot eine Lösung darstellen könnte. Ein Problem lässt sich einfach konstruieren: Der Radsport ist ein ökonomisches Produkt, das sich über die Massenmedien dem Publikum nur verkaufen lässt, wenn die traditionellen Werte des Sports – Fairness und Gesundheit – mit dem Produkt in Verbindung gebracht werden können. Das Publikum will Helden sehen, die sich mit übermenschlicher Anstrengung steile Bergrampen hocharbeiten; redliche Arbeiter, die viel trainieren und uns zeigen, was mit Fleiss und mentaler Stärke alles erreicht werden kann. Es will keine mit Medikamenten voll gepumpten Muskelpakete anfeuern und nicht denjenigen bejubeln, der den besten Arzt hat.


Man könnte also die These aufstellen, dass es beim Dopingverbot nicht so sehr um die Erhaltung von Fairness und Gesundheit geht, sondern vornehmlich um die Wahrung ökonomischer Interessen, die von dieser Fairness-/Gesundheitssemantik abhängen. Dass weder das Gebot der Fairness noch die Gesundheit der Massnahmen durch das Verbot nachhaltig geschützt werden, spielt eine nebensächliche Rolle. Hauptsache man versucht es, man zeigt dem Publikum, dass alles unternommen wird, um den Sport ‚sauber’ zu halten oder wieder zu machen – immer unter Betonung, dass dies auch gelingen wird, gelingen kann.


Diese Strategie wird praktisch in jedem Sport mit mehr oder weniger grossem Nachdruck verfolgt. In vielen Sportarten ist das Problem weniger virulent, weil der Einsatz leistungsfördernder Mittel nicht so viel bringt, wie in Ausdauer-, Schnellkraft- und Rohkraftsportarten. Im Radsport jedoch scheint momentan ein Punkt erreicht, wo das Scheitern der Strategie so offensichtlich wird, dass das zu lösende Problem (die erfolgreiche Vermarktung des Produkts ‚Radsport’) nicht mehr bewältigt werden kann, dass die Problemlösung 'Dopingverbot' scheitert. Die Massenmedien sichern ihre Auflagen nicht mehr mit Berichten über Heldentaten am Mont Ventoux, sondern mit Reportagen über Dopingrazzien und prozesse. Dies wiederum ist nicht im Sinn der Radsportorganisationen, denn mit dieser Form von Publizität ziehen sich die Sponsoren schnell zurück. Kurz: das Produkt lässt sich weniger gut verkaufen.


Vielleicht bietet die Krise im Radsport die Chance, grundsätzlich über die Funktionalität des Problemlösungsversuchs ‚Dopingverbot’ nachzudenken. Anlass dazu bestünde in ausreichendem Mass, denn die Nebenwirkungen des Dopingverbots sind verheerend. Medizinisch gesehen liegt das Problem erstens darin, dass ständig neue wirkungsfördernde Substanzen entwickelt und jenseits aller behördlichen Kontrollen im direkten Menschenversuch getestet werden. Dazu kommt, dass die relevanten Medikamente durch Substanzen ergänzt werden, welche die Analyse der verbotenen Substanzen bei den Urintests verunmöglichen. Das führt zur Applikation von Substanzencocktails, bei denen kaum bekannt ist, wie die einzelnen Substanzen zusammen interagieren. Auf kommunikativer Ebene geht es darum, dass durch die exemplarische Bestrafung von ‚Einzeltätern’ Karrieren zerstört werden und den Sportlern und ihrem privaten Umfeld grosses Leid zugefügt wird. Wir erinnern uns an Marco Pantani, der wenige Jahre nach Beendigung seiner Karriere wegen Dopingvorwürfen, als gebrochener Mann drogen- und medikamentenabhängig aus dem Leben schied. Und wir vergessen dabei nicht: Er war einer von vielen (wohl: fast allen), die gedopt haben, aber er wurde erwischt. Und ist daran zerbrochen.


Wenn eine ‚Problemlösung’ wie das Dopingverbot selbst zum Problem wird, dann stellt sich die Frage, ob man sie nicht besser einstellen würde. Wie immer bei Entscheidungen stellt man sich auch bei der Entscheidung zu einer Aufhebung des Dopingverbots einer offenen Zukunft. In andern Worten: Man weiss nicht, wie sich die Dinge wirklich entwickeln werden. In der Gegenwart kann man sich nur auf mehr oder weniger gesicherte Annahmen stützen – die Annahme zum Beispiel, dass die Sportler ärztlich besser betreut werden, weil diese Betreuung nicht mehr ausserhalb der professionellen und der öffentlichen Kontrolle erfolgt. Weiter ist anzunehmen, dass die körperliche Gefährdung für die Athleten abnimmt, wenn ihnen zusätzlich nicht noch (nicht verbotene) Substanzen appliziert werden, welche die Illegalen Medikamente überdecken. Sicher auch von Vorteil wäre, dass die hysterische Verurteilung von (scheinbar) einzelnen Sündenbocken ein Ende finden würde.


Doch es sind sicher auch Nachteile zu erwarten: So wird die Erfolgsdynamik, die untrennbar mit dem Spitzensport verbunden ist, mit Bestimmtheit weiterhin illegale Aktivitäten generieren. Es kann bei einer Aufhebung des Dopingverbots ja nie um eine vollständige Liberalisierung gehen. Es kann immer nur um eine Öffnung in Richtung der bestehenden medizinischen Rahmenbedingungen und gesetzlichen Vorschriften resp. der entsprechenden Kontrollvorschriften gehen und nicht darum, dass jeder Quacksalber jenseits jeglicher behördlicher Kontrollen neue leistungsförderliche Substanzen anstatt an Mäusen direkt am Endverbraucher testet. Es geht bei einer Aufhebung des Doping-Verbots ja schliesslich um den besseren *Schutz* der Athleten und nicht um deren Gefährdung. Wo immer jedoch (unverzichtbare) gesetzliche Rahmenbedingungen bestehen, existiert immer auch die Gefahr, dass diese Rahmenbedingungen umgangen werden. Kontrollen werden demnach auch bei der Aufhebung des Doping-Verbots unverzichtbar sein, aber der Kontrollbereich wird weit eingeschränkter ausfallen, was die Erfolgswahrscheinlichkeit der Durchsetzung gesetzlicher Vorgaben erhöht.


Erst recht nicht vorauszusagen ist, welche Auswirkungen eine Aufhebung des Dopingverbots auf die Verkaufsfähigkeit des Produkts ‚Radsport’ haben wird. Vielleicht will sich wirklich niemand mehr Rennen mit Epo-Fahrern anschauen. Vielleicht hat der Sport als Werbeträger in der Tat keine Anziehungskraft mehr, wenn die Gesundheitssemantik nicht mehr aufrecht erhalten werden kann und die Heldentaten nicht mehr nur den individuellen Fähigkeiten, sondern auch der Leistungsfähigkeit des Medizinsystems zugeschrieben werden können. Vielleicht ist es aber auch so, dass die Gewissheit medikamentös unterstützter Spitzenleistungen schnell ihren Informationswert verliert und sich das Publikum an Tour de France-Siegen mit Epo genau so freuen kann wie an Siegen ohne (nachgewiesenen) Epo-Gebrauch.


Wir wissen es nicht. Die Zukunft ist wie immer opak (Peter Fuchs). Was wir aber wissen, ist, dass die aktuelle Problemlösung – das Dopingverbot – die erhoffte Wirkung nicht bringt und zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen nach sich zieht. Warum also nicht den Entscheid zu einer Änderung der Strategie fällen? Denn wir wissen ja: Auch der Entscheid zur Nicht-Veränderung, zum Status Quo, ist eine Entscheidung gegen Alternativen – und damit eine Entscheidung, die uns mit einer offenen Zukunft konfrontiert. Die Dinge können nämlich durchaus noch schlimmer werden, wenn wir am Dopingverbot trotz seinem offensichtlichen Scheitern festhalten.