Seelenbaumeln

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser!


An das gestrige abschließende „Seelenthema“ anschließend kommt mir ein Urlaubsereignis in den Sinn, das ich gerne erzählen möchte: Über das Schreiben von Ansichtskarten kamen wir ins Gespräch über das Thema "Seelenbaumeln lassen". Wieso denn eigentlich „Seelen“ und nicht „Seele“ war die Frage? Es sei doch nur die eine Seele, die Mensch baumeln lassen kann? Diese Frage hat mich seither immer wieder beschäftigt, nicht nur, weil ich „Seelenbaumeln“ als Wort um so vieles ansprechender finde als „Seelebaumeln“.


Die Bilder, die über die Begriffe entstehen, können sehr unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen. Üblich, so scheint mir, ist in unseren Breiten eher die Ansicht, jeder Mensch hätte eine Seele. Dieser Glaube an die Einheit spiegelt sich auch in den Bildern vom Menschen als Identitäten und integrierte Persönlichkeiten wider. Was hilft es uns, einander so zu begreifen und zu begegnen? Natürlich erlauben diese Sichtweisen Komplexitätsreduktion und damit Vereinfachung. Sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung. Wenn Werte, Einstellungen, Verhaltensweisen zueinander passen, wir also möglichst konsistent sind, dann leben wir leichter. Mit uns selbst und auch mit anderen - zu mindest in einer Welt, in der Normalitäten, zwar immer wieder neu, aber doch recht mächtig, definiert werden.


Natürlich stimmt auch, dass wir, gerade die wir in einer Gesellschaft von Organisationen leben und damit unterschiedlichsten „Welten“ angehören können, uns auch in verschiedenen Normalitäten bewegen. Dennoch gibt es diese Erwartung, dass hinter diesen unterschiedlichen Rollen eine Grundkonstante in jeder/m von uns wirkt, die unser Sein, Fühlen und Denken bestimmt.


Demgegenüber schafft die Vorstellung, jede/r von uns ist viele, bewohnt von ganz unterschiedlichen Seelen und Identitäten, erwachsen aus den verschiedensten Seinsgegebenheiten unseres Lebens, ein völlig anderes Bild. Nicht Konstanz und Erwartungen bestimmen das Sein, sondern der Augenblick. Sprunghaftigkeit, Ambivalenzen und unterschiedliche Seelen verursachen allerdings auch Spannungen, die ein „internes Widerspruchsmanagement“ erfordern. Ebenso würde es erfordern, sich in jedem Augenblick ausschließlich auf das aktuelle Gegenüber und auf das aktuelle innere Geschehen zu beziehen. Nicht die Bilder einer Person (auch meiner eigenen), die ich in mir gespeichert habe, dominieren dann meine Wahrnehmung, sondern das konkret beobachtbare Verhalten. Für eingespielte Konfliktmuster gäbe das ein leichteres Auskommen, die Schatten der Erfahrungen liegen nicht über der aktuellen Auseinandersetzung.


„Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Deshalb ist, wer die Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von mancherlei Art, die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen.“ Fernando Pessao, Livro do desassossego, Aufzeichnung vom 30.12.1932 (zit. n. Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon. Btb Verlag, München, 2006)