Schöne Bescherung

OK - ich gebe zu, gestern weniger an Babymorde noch an sonstiges Elend in der Welt gedacht zu haben. Ich versichere aber, dass das ansonsten zu meinen alltäglichen Beschäftigungen gehört. Gestern jedoch war ich mit anderen Dingen beschäftigt. Zunächst übrigens mit der Frage von Moritz (7), meinem Jüngsten, was wir denn am Heiligmorgen bzw. Heiligmittag zu tun gedächten, wo es doch bis Heiligabend noch so lange hin sei?


Da fiel mir der Königsforst ein, immerhin eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Nordrhein-Westfalens und mehr oder weniger vor unserer Haustür gelegen, wenngleich als Refugium für unsere Familienerholung suboptimal genutzt. Ich schlug also für den Heiligmittag eine Fahrradtour vor, die von den beiden Jüngeren (7 und 9) ebenso begeistert begrüßt wie von den Älteren (15 und 17) herablassend („much fun!“) abgelehnt wurde. Damit meiner Frau ausreichend Zeit zum Verpacken der Geschenke blieb, verließ meinen Vorderreifen mitten im Wald die Luft. Der Heilignachmittag wurde dann mit längerem Fahrradschieben und Geschichtenerzählen aufs Vortrefflichste gefüllt.


Anschließend bereitete ich das Weihnachtsessen für Eltern, Kinder und vier Großeltern zu - einen Salat aus Roter Beete und Rauke mit verschiedenerlei Nüssen als Vorspeise sowie Kasseler mit Kartoffelpüree und Sauerkraut (ich konnte mich dabei durchsetzen, da wir erst vor einer Woche Kartoffelsalat mit Würstchen hatten). Zur Erleichterung der Eltern erwiesen sich die Geschenke für die Kinder und die Großeltern als Volltreffer. Der Heiligabend ist dann auch rundum gelungen, entspannt, zufrieden und völlig konfliktfrei - womit ja nicht immer gerechnet werden kann.


Weihnachten ist für unsere Kinder zweifellos ein „Event“. Wie früher werden die Tage gezählt, einfach weil es einen Adventskalender gibt und die Erwartung an Geschenke besteht. Allerdings ist ihr Alltag so mit Aktivitäten aller Art gefüllt, dass Weihnachten nicht mehr so sehr herausragt. In meiner Erinnerung war Weihnachten der lange erwartete Höhepunkt zum Jahresende, auf den man wochenlang hinfieberte, weil es sonst nicht so viel zu fiebern gab: mit einer Mischung aus Ehrfurcht, kräftig gespeist durch die Dramaturgie des Kirchenjahres, die einschüchternde lateinische Liturgie sowie das Gefühl der Erhebung durch die eigene Teilnahme an den kirchlichen Ritualen (Christmette usw.) und freudig-banger Erwartung des Weihnachtstages, der ebenfalls sehr durchritualisiert war (gründlichster Hausputz, Spazierengehen, Warten im Zimmer „Wir warten auf‘s Christkind“, das Glöckchen, Singen und Blockflötenspiel, das qualvolle Aufsagen von Gedichten). Diese Mischung von Beglückung und Angst empfand ich damals als sehr charakteristisch. In der Jugend war dann das Gegenprogramm mit gleicher Intensität angesagt, ein Kampf gegen alle Rituale, der natürlich selbst nicht frei von rituellen Formen war. Ich erinnere mich noch gut an eine Autowaschaktion auf der Straße am Abend des 24.12., wo wir es den Spießern mal so richtig zeigen konnten, die uns auch prompt den Gefallen taten und uns heftig wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses beschimpften.

Und heute sitzen wir wieder vor dem Weihnachtsbaum. Alles ist locker und entspannt, niemand muss Eingeübtes aufsagen oder vorführen, nicht jede Ecke im Haus ist durchgeputzt und ich genieße das Werkeln in der Chaos-Küche wie jedes Mal, wenn es Gäste zu bewirten gibt. All das verschafft mir ein tiefes Wohlgefühl - und dennoch: gelegentlich stellt sich eine leise Irritation ein. Es ist, als fehle etwas Bedeutsames, eben das Gefühl eines Höhepunktes, der sich nur nach längerer Vorbereitungsphase einstellen kann - für die wir einfach kaum Zeit haben. In gewisser Weise kommt es mir wie ein ambivalentes Bedürfnis nach Sakralität in einer Welt vor, in der alle denkbaren Ereignisse schon auf längst auf „Event“-Format heruntergeschrumpft sind – bei aller Genugtuung, der rituellen Enge und symbolischen Rigidität der Kindheit glücklich entronnen zu sein.