"Schockfotos" - echte Betroffenheit oder Heuchelei?

Die Empörung ist riesig. Deutsche (DEUTSCHE!) Soldaten spielen mit Gebeinen Puzzle. Der Deutsche Verteidigungsminister sagt seine geplante Asienreise ab und schickt einen Sonderermittler nach Afghanistan. Beteiligte bereuen öffentlich. Und nebenbei erfährt man, dass die Knochen und Schädel aus einer Baugrube stammen, in der die Einheimischen ihren Lehm holen. Eine Patrouille fährt mit dem Jeep vorbei, sieht die Gebeine und hält für die Foto-Session, die uns daheim Gebliebenen Anlass für diese sonderbare Mischung von Ekel und Faszination gibt. Und die Absatzzahlen von Bild und Konsorten wieder für einige Tage sichert.


Was ist davon zu halten? Die Aktion der Einheit ist sicher mehr als ein Lausbubenstreich. Das Verhalten der Soldaten zeugt von Geschmacklosigkeit und von bodenloser Dummheit, umso mehr als der Fototermin in Kontext der Organisation Militär erfolgt ist. Da sind Entscheidungen gefallen („Komm, wir halten und machen uns einen Spass“), und diese Entscheidungen haben weitere Entscheidungen nach sich gezogen – etwa die Entscheidungen von nicht direkt beteiligten Vorgesetzten, trotz Kenntnis der Fotos keine Sanktionen zu verfügen. Das rächt sich; die Entscheidungen stellen sich im Nachhinein als falsch heraus, was weiteren Entscheidungsbedarf mit sich bringt. Es werden „Köpfe rollen“ (man beachte das passende Sprachbild) und die Schuldigen werden „gnadenlos angepackt“. Nun denn. Die Organisation tut, was sie tun muss, um mit den Irritationen des massenmedialen Umweltlärms umzugehen.


Doch könnte man den Vorfall nicht auch anders einschätzen? Ist er etwa zu vergleichen mit den Vorfällen von Abu Ghraib? – Mit Sicherheit nicht, denn damals waren auf der Opferseite lebende Menschen sehr direkt betroffen. Natürlich gibt es auch jetzt Betroffenheit. Zum Beispiel die Betroffenheit der islamischen Religionsgemeinschaft im Allgemeinen und der afghanischen Bevölkerung im Besonderen, die sich im Kontext westlicher „Präventivkriege“ einmal mehr verunglimpft fühlen. Aber ist der Vorfall zu vergleichen mit der skandalösen Inhaftierung des türkisch-stämmigen Deutschen in Guantanamo? Mit den Hunderttausenden Toten unter der Zivilbevölkerung im Iraq?


Das wirklich Empörende an dieser ganzen Angelegenheit ist meiner Meinung nach die Empörung, mit der Vorfälle wie diese bei uns beobachtet werden. Ich betone es nochmals: Das Verhalten der Soldaten und ihrer Vorgesetzten war falsch, und es erfordert organisationsinterne Sanktionen und (wieder einmal) eine offizielle Entschuldigung der Organisation Militär bei jenen, die sich durch die Fotos betroffen fühlen. Viel skandalöser ist für mich jedoch die Lautstärke dieses massenmedialen Aufschreis selbst. Der immense Lärm ist skandalös weil er die andern Skandale übertönt, die diese Kriege mit sich bringen. Weil er vorgaukelt, Puzzles mit Gebeinen gehörten zu den wirklichen Gräueln des Krieges. Weil er die Tendenz unterstützt, die täglichen Berichte über Dutzende zerfetzter Iraqi mit weniger Emotionen als den Wetterbericht hinzunehmen.


Ich weiss, die Massenmedien sind auf die Neuheit von Information angewiesen, und eine wiederholte Information verliert ihren Informationsgehalt schnell. Trotzdem: Die übermässige Skandalisierung von Vorfällen wie den „Schockfotos“ ist skandalös, weil sie den Blick weglenkt von Fragen, die uns alle betreffen. Von der Frage zum Beispiel, wie wir (die Deutschen, die US-Amerikaner und auch die immer ach-so-neutralen Schweizer) mit andern Staaten, Religionen und Kulturen umgehen. Die Skandalisierung ist skandalös, weil sie Schuldige identifiziert und damit den Kreis der Schuldigen ganz, ganz eng zieht – um Soldaten, die „unehrenhaft entlassen“ werden oder um Vorgesetzte, die gemahnt oder in der Hierarchie zurückgestuft werden. Sie ist skandalös, weil sie den Eindruck erweckt, dass die Welt wieder in Ordnung sei, wenn das Problem der „Schockfotos“ bewältigt ist. Weil sie nichts ist als schiere Heuchelei.