Samurai

Oh je! Es hat michvor zwei Tagen ein Husten/Schnupfen attackiert und ein Hexenschuss nachhaltig gestreift, der zugenommen hat... ich bin leicht angeschlagen. Die zusätzliche Herausforderung der Kehrwoche hat mich sehr, sehr unvorsichtig sein lassen. Ich muss seit 20 Jahren auf meinen Rücken acht geben. Meinem Kreuz und Rücken hab ich fest versprochen in der Zeit am Laptop alle 10 -20 Minuten aufzustehen, rumzugehen und die betreffenden hilfreichen Yogaübungen zu machen, die dem Zusammenbruch des aufrechten Systems vorbeugen und die ich während der Einkehr, nein schon vorher (!), ganz ganz blödsinniger Weise schlicht "vergessen" habe. Auch das Training habe ich auf Grund anderen Prioritäten vernachlässigen müssen. Ich will heroisch sein und meine Einkehr am Laptop durchhalten und über den Samurai schreiben. Hoffentlich funktioniert es! Als Samurai meines Selbst gelobe ich hier vor dem weltweiten Raum meinem Körper, den ich sträflich im Stich gelassen habe, dass ich es NIE, NIE, NIE wieder soweit kommen lasse, zu "vergessen"seine Bedürfnisse zu beachten, zu "vergessen" aufzustehen, zu "vergessen" mich zu bewegen, zu "vergessen" die hilfreichen Yogaübungen zu machen und überhaupt die Prioritäten so sehr ins Ungleichgewicht geraten zu lassen! Der Samurai hat nichts, nur seinen Körper und muss ihn daher in Schuss halten. Ein Samurai stirbt übrigens auch tunlichst nicht im Bett.


Der Samurai ist eine vorbildträchtige, beeindruckende historische Gestalt. Man sieht sie sich lieber im Film an, als in Erwägung zu ziehen, selbst einer zu werden. Doch daraus erklärt sich nur ein Aspekt des Zulaufs den diverse Samurai- und Kampfkunstfilme seit Jahrzehnten verzeichnen. Denn nicht allein aus Aktionismus, Folklore und dem Bildreichtum des filmischen Geschehens lässt sich das starke Interesse erklären. Jeder spürt selbst eine tiefe grundsätzliche Sehnsucht nach menschlichen (männlichen???) gelebten Werten, wie die gestern hier aufgezählten. Vermute ich zumindest, indem ich von mir auf andere schließe. Ich wiederhole sie gern noch mal. Werte wie Treue, Loyalität, Verbindlichkeit, Todesmut, Selbstaufgabe und Selbsttreue, Selbstdistanz, Selbsttranszendenz und viele andere mehr, die in den gehobeneren Beispielen solcher Filme angesprochen sind und in jedem Selbst nach Verwirklichung schmachten. Man möchte sich in ihrem Abglanz aufhalten, Tapferkeit beobachten, die aufopferungssehnsüchtige, tatendurstige Seele darin sonnen und am Schluss irgendwie unbeholfen darüber reden. Soll man dem Drang der Seele folgen oder sich mit aufgeklärter Ironie darüber erheben? Meist geht man heim, ohne einen Entschluss zu fassen.


In HAGAKURE. DER WEG DES SAMURAI (ISBN 3-8225-0644-3 Piper 2003 sowie Kabel-Verlag) welches im Original aus 11 Büchern besteht, schreibt sein Autor Tsunetomo Yamamoto (geb. 1659) in der Einführung:


„*Bushido* (Der Weg des Kriegers) liegt im Sterben. Wird man mit zwei Alternativen konfrontiert, Leben und Tod, so soll man ohne Zögern den Tod wählen. Daran ist nichts Schweres; man muss nur fest entschlossen sein Ziel verfolgen.


Wenn einige behaupten: „Ein Tod, ohne seine Bestimmung erlangt zu haben, ist ein sinnloser Tod“, so ist das die berechnende Art zu denken, die dem eitlen, verstädterten Bushido entspringt. Zwischen zwei Alternativen eingezwängt, kann man nur schwer den richtigen der beiden Wege wählen. Um sicher zu gehen, bevorzugt jeder das Leben gegenüber dem Tod; man versucht, sich von der Vernunft des eigenen Überlebens zu überzeugen. Doch wenn man überlebt, ohne ein gerechtes Ende erlangt zu haben, ist man ein Feigling. Hierin liegt der entscheidende Punkt.


Solange jemand umgekehrt den Tod wählt, ohne sein Ziel erreicht zu haben, ist sein Tod frei von Schande, auch wenn andere ihn sinnlos oder wahnsinnig nennen mögen. Das ist die Essenz des Bushido. Wenn jemand jeden Morgen und Abend sich auf den Tod vorbereitet und ihn jeden Augenblick erwartet, wird Bushido zu seinem eigenen Weg, wodurch er seinem Fürsten sein ganzes Leben fehlerlos dienen kann.“ (Zitat Ende)


Die Kapitelüberschriften handeln in der Folge, zunächst nur vom „Fürsten“:


Unerschrockene Ergebenheit dem Fürsten gegenüber, Die unbedeutende Subjektivität wegwerfen, Die Grenzen der eigenen Weisheit erkennen, Im Herzen im Einklang mit dem Fürsten sein, Stets fest entschlossen sein für den Fürsten zu sterben, Sein Leben zugunsten des Fürsten aufgeben, um nur einige der Maximen zu zitieren, die auf die „Funktion“ des Samurai hinweisen.


Das Handlungs-System des Samurai ist auf den Fürsten ausgerichtet, dessen Gefolgsmann der Samurai ist und dem er lebenslang dient, an den ihn emotionale, persönliche Bande binden und bei dessen Tod er traditionell sepukku begeht.


Takao Mukoh, der Herausgeben des HAGAKURE, schreibt im Nachwort, dass man, um den grundlegenden Geist des *Hagakure* zu verstehen, die Zeile „*Bushido* (Der Weg des Kriegers) liegt im Sterben“, genauer analysieren muss, um zu verstehen, dass das darin enthaltene Konzept des Sterbens das tiefere Motiv ist.

Im Gegensatz zum verbreiteten Glauben, dass Loyalität dem Lehensfürsten gegenüber der wesentliche Faktor des Buches sei, verleiht nämlich das *Hagakure* dem Konzept des Sterbens eine zentrale Bedeutung und behandelt Loyalität dem Fürsten gegenüber nur als eine von vielen Ableitungen daraus. Die Philosophie des Sterbens, so Mukoh, transzendiere auf komplexe Weise den üblichen Samurai-Ehrenkodex, in welchem er ausschließlich Vasall ist.


Um fähig zu sein, sich im entscheidenden Moment kopfüber in den Tod zu stürzen, muss jemand Tag und Nacht darauf vorbereitet sein, „über eine Vielzahl von Arten des Todes nachdenken und sich seine letzen Augenblicke vorstellen, wie in Stücke zerhackt zu werden (...) in rasende Feuer zu springen (...) in einen Schwindel erregenden Abgrund zu fallen (...)“. So vorbereitet, kann jemand sich in einen beinahe wahnsinnigen, verzweifelten Zustand jenseits der Vernunft und des Selbstschutzes begeben, bemerkt Takao Mukoh.


Mukoh bemerkt weiter:

Das *Hagkure* lehrt also, durch tägliche Übung die mentale Einstellung für den richtigen Moment des Handelns zu gewinnen.


Die Philosophie des Sterbens bahnt sich auf folgendem Gedankengang den Weg in den Dienst des Gefolgsmannes (Samurai): „...wenn jemand in jedem Augenblick den Tod erwartet (...) wird er seinem Fürsten das ganze Leben lang durch und durch fehlerlos dienen können.“


Die Philosophie des Sterbens wird im *Hagakure*, welches sich hier auf Friedenszeiten bezieht, auch oft durch andere Ausdrücke erklärt wie „rein und einfach werden“ und „tägliches Sterben.“

Die Praxis des Zen ist damit angesprochen, die eng mit der Samurai-Kultur verbunden ist:


„Während man sich so bei jedweder Tätigkeit bemüht, kristallisiert etwas im Geiste. Dieses Etwas wirkt als Loyalität dem Fürsten gegenüber, als kindliche Pietät den Eltern gegenüber und als Mut auf dem Weg des Bushido. Es wirkt auch noch auf viele andere Weisen.“ (Tsunemoto)


„Die Loyalität dem Fürsten gegenüber ist in der inbrünstigen Hingabe an den Augenblick enthalten. Der idealisierte Sinn des Sterbens liegt im glühenden Einsatz für das eigene Ziel, woraus Loyalität, Mut und kindliche Pietät entstehen“ ergänzt Takao Mukoh.


Was wäre wenn wir nun, so möchte ich fortfahren und vorschlagen, den „Fürsten“ schlicht als eine Metapher des SELBST nehmen?


In meinem Buch „Das Spiel, das nur zu zweit geht“ definiere ich das SELBST als das System von Selbst und Nicht-Selbst.


Wenn wir das SELBST nun als FÜRST annehmen, beziehungsweise das SELBST anstelle des FÜRSTEN stellen, sind wir unversehens auf eine tiefenstrukturelle Ebene gelangt, die die selbstreferentiellen Motive des Handlungszusammenhanges von SELBST und FÜRST logologisch erhellen kann. Für diese Erleuchtung muss man ein wenigdas Abstraktionsvermögen strapazieren und den kreativen Willen anrufen. Man kann auch, bei Geübtheit, das *corpus callosum* aktivieren und damit stärken, um die beiden Gehirnhälften miteinander zu verbinden. Bilateralität ist nämlich gefragt, um hinter den Erscheinungen deren unmittelbaren Zusammenhang zu sehen (statt kruder Aleatorik.)


Wenn nun gesagt wird, dass der Weg des Kriegers das Sterben ist, dann ergibt das vor dem oben gezeichneten logologischen Bild des SELBST für uns nun die logische Übersetzung des Konzeptes des Sterbens.


Es besagt, dass im Leben, dessen Gegen-Teil der Tod ist, TODESMUT **und** LEBENSMUT gefordert sind und besagt zugleich, dass beides **dasselbe** ist. Das Konzept des Sterbens bezeichnet so für uns gegenwärtig Lebende die gegenwärtige Gratwanderung auf dem Kamm zweier Abgründe: Leben und Tod. Der Grat ist der Schied dieser Unterscheidung (von Leben und Tod, von Selbst und Nicht-Selbst usw.), auf dem wir nicht nur wandern, sondern der wir - und das auch nur qua gegenseitiger Unterscheidung, - **sind**. Eine solche Selbst-Distanz zu gewinnen steht an, um klarer zu sehen.


Wahrhaftigkeit und Loyalität und sämtliche Tugenden, die wir in uns erfunden haben, um das Leben zu ordnen, bedeuten, dass alles zählt, was wir denken, sagen und tun und dass alles, was wir denken, sagen und tun seine Wirkung hat und die entsprechende Realität (Welt) erschafft.

Es ist nicht so, dass ich mich nicht gerade selbst zu fürchten beginnen, vor den großen Worten, die ich hier so gelassen ausspreche, aber das sind eben die Gedanken, die beim Verfassen dieses Textes allmählich entstehen...Denken Sie sie bitte hier individuell weiter, ich muss leider aufhören.


Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Buch HAGAKURE vom schlechten Einfluss, den es angeblich im Krieg auf die Jugendlichen hatte freigesprochen und in Japan wiederentdeckt und häufig in japanischen Medien zitiert. Seine Auslegung hatte sich mit den sozialen Gegebenheiten verändert. Doch ohne Zweifel, so Takao Mukoh, wird ein Mensch, der die Gedanken des *Hagakure* bezüglich des Todes, der Selbstbehauptung, des mutigen Handelns und der starken Persönlichkeit einmal kennen gelernt hat, nie wieder gänzlich vergessen können.


Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang, dass Jim Jarmuschs Film *Ghost Dog*, enorme Aufmerksamkeit auf sich zog und dass schon, wie der deutsche Übersetzer des *Hagakure* in einer Fußnote schildert, das Zitieren der Texte durch den Protagonisten einen Run auf die Buchläden auslöste. Selbst der zuvor im Westen praktisch unbekannte Titel des Buches konnte das nicht verhindern. Noch im Kinosaal, so derselbe, konnte man immer wieder erleben, wie vor allem Frauen fasziniert die vorgelesenen Textauszüge kommentierten.


Was hatte denn an *Ghost Dog* die westlichen jungen Frauen und Männer so fasziniert?


Ich habe vor ein paar Jahren beim Videoschauen mitgeschrieben, was in dem Film vom Hauptdarsteller gesagt wird. Es hatte mich interessiert, ich habe die Zettel in meiner besonderen Filme Mappe aufbewahrt.


Es wird gesagt, man solle sich täglich alle Todesarten vorstellen (- als da heute wären? – ja z. B. ein Erdbeben, Feuersbrünste, das Ertrinken, das Überfahrenwerden, das Zerstückelt und Zermalmtwerden bei einem Autounfall, vom Blitz erschlagen zu werden, von der Lawine begraben werden, vom Tsunami hinweggefegt werden, aus dem Fenster gestürzt zu werden, vom Herzinfarkt niedergerissen zu werden, es bleibt der Phantasie überlassen, die Reihe plötzlicher Todesarten fortzusetzen.)


Man solle täglich eine (!) TAT begehen. Nicht zwei Wege. Nur den einen gehen. Man solle Körper und Geist seinem Herrn widmen (!). Dinge von großer Bedeutung gehe man mit Leichtigkeit an, Dinge von geringer Bedeutung mit großem Ernst. Entscheidungen treffe man innerhalb von 7 Atemzügen. Wichtig sei, dass man die Entschlossenheit und Stärke hat, zur anderen Seite durchzubrechen. Ein Samurai, der enthauptet ist, sollte immer noch zu einer entschlossenen letzten TAT fähig sein.


Es wird auch gesagt, dass Form Leere sei und Leere Form. Und dass wir aus der Mitte des Nichts geboren werden.


Man möge vorsichtig sein mit Vorhaltungen gegenüber anderen, und auf jede Situation vorbereitet sein.


Der zentrale Satz in *Ghost Dog* besagt, dass nichts so sehr zählt wie der gegenwärtige Augenblick und hat man das einmal verstanden, gäbe es nichts anderes zu erstreben.


Ich habe auf dem Zettel auch stehen: Man solle sich mit dem Wolkenbruch abfinden.


Gegen Ende heißt es, dass es daher von Bedeutung sei aus jeder Generation das Beste zu machen, und dass das ENDE in allen Dingen wichtig sei, und man jeden Entschluss auf direktem Wege ausführen solle.


Diesem gemeinsamen Sehen und der gemeinsamen inneren Übereinkunft, dass wir zu erarbeitende Werte und Tugenden ersehnen und brauchen, steht jedoch offensichtlich *Rushomon* gegenüber – wo alle dasselbe anders sehen.....


Ich werde mir den Film wieder ansehen, denn seine erfreuliche Existenz bedeutet ja, dass es in der Tiefe des Westens Affinitäten zur Kultur des Ostens gibt und vice versa, und dass diese gesucht, gefunden und gegenseitig übersetzt werden.


Morgen möchte ich über das *Schwert* schreiben.