Respekt

Heute morgen in der S-Bahn. Ein Mann schläft auf einer der vorderen Sitzbänke. Vor ihm, auf einer weiteren Sitzbank, Plastiktüten. Um ihn herum im Abstand von ca. 2,5 m: leere Sitze.


An jeder Haltestelle steigen Menschen ein, nähern sich den leeren Sitzen, werfen eine Blick auf den Schlafenden und schleichen sich, ohne ihn zu Wecken, auf leisen Sohlen davon.


Aus der Distanz sieht das so aus, als würden sie Rücksicht auf ihn nehmen, seinen Schlaf schützen wollen: ein Zeichen des Respekts vor seiner Privatsphäre...


Wenn man sich dem Schlafenden nähert, registriert man in etwa zweieinhalb Meter Abstand einen schneidenden, kaum auszuhaltenden Gestank und tritt - möglichst schnell - seinen Rückzug an.


Was von außen als Respekt erscheint, ist das Resultat eines unerträglichen Gestanks.


Das gibt zu denken, was andere vermeintliche Respektsbezeugungen angeht. Vielleicht handelt es sich ja nur um eine ähnliche Situation: Die Respektsperson hat die Art von Duftmarken gesetzt, denen man lieber aus dem Weg geht.


Betrachtet man das ganze lösungsorientiert, dann zeigt sich die Funktionalität des Daseins als Stänkerer oder Stinker. Man hat Platz, schafft sich Distanz, wird nicht belästigt und verjagt potentielle Konkurrenten um das eigene Territorium (machen ja viele Tiere auch, die das von ihnen als Lebensraum beanspruchte Territorium durch Urin, Kacke oder andere übelriechende Stoffe markieren).


Ideal ist natürlich, wenn es demjenigen, der den anderen stinkt, gelingt, das Verhalten seiner Mitmenschen als Ausdruck von Respekt zu interpretieren...