Reich und national

###Phasenverschiebung###

Aus dem Halbschlaf aufgewacht mit einer Sequenz aus Steve Reich’s „Music for 18 Musicians“ im Kopf, eines meiner Lieblingsstücke aus der minimalistischen Tradition, das ich allerdings seit mindestens ... 18 Monaten nicht mehr gehört habe. Denke: wie ein Kommentar zum Abschlusszitat meines gestrigen Blogs. Es gibt Begriffe, auch ganze Beobachtungen, die man ähnlich wie Noten scheinbar endlos transponieren kann. Figur und Hintergrund in der visuellen Wahrnehmung, Figur und Hintergrund in der Musik, Figur und Hintergrund bei der Beschreibung von Beobachtungssituationen (z.B. Ritualen), Figur und Hintergrund im semantischen Gewebe eines Satzes.

Reich hat phasenartig verschobene Patterns meist modaler Tonalität übereinandergelegt. Durch Repetition mit geringfügigen Variationen entstehen – gerade bei „Music for 18 Musicians“ – raumhafte Übergänge. Statt melodiöser oder narrativer Kontinuität (Linearität) bildet sich der Eindruck nahtloser Durchdringung von Vordergrund und Hintergrund, Anfang und Ende. Teile des Klangraums spielen sich momentartig in den vordergründigen Aufmerksamkeitsfokus, um jäh aber sanft vom Fluss des Hintergrund aufgenommen und neu ausgestossen zu werden.

Arm dran sind bei dieser Musik nur Menschen mit einem analytischen Hörstil (remember Adorno ...). Bewegt man sich jedoch außerhalb dieses seltsamen, rationalistischen Paradigmas, lassen sich aufschlussreiche Beobachtungen zum Beobachter machen bzw. zum Hörer, wenn er wagt, die Augen zu schließen.


###Rückbezug###

Involviertheit oder „Teilhabe“ am Beobachtungsfeld (jetzt weniger in dem allgemeinen Sinn der Systemtheorien 1. oder 2. Ordnung), sondern im spezifischeren Sinn, der [dynamischen Ritualwissenschaft](http://www.ritualdynamik.uni-hd.de), die wir in Heidelberg zu entwickeln scheinen.

Schaut man sich das Ritualverständnis innerhalb der systemischen Therapie an (seit Mara Selvini Palazzoli), so entdeckt man meist ein Auffassung von Ritual als (aus dem Therapiekontext heraus gesehen dysfunktionales) „Muster“, das durch eine geeignete Variation dynamisiert und in ein anderes Muster verwandelt werden soll. „Rituale“ werden so selber zu einer Intervention unter anderen, verschreibbar, umgrenzt. Meist sind es symbolische Handlungen, die verordnet werden (wie die „Prozession“ einer Familie zur Kloschlüssel, in der die Medikamente des Indexpatienten versenkt werden).

Das verkürzt den Begriff „Ritual“ ziemlich, oder spielt zumindest eine interventionistische Variation von Ritualverständnis in den Vordergrund.

Unsere mitteleuropäische Teilhabe an Ritualen wie Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen (um hier nur existentiellere Situationen zu nennen) ist oft eher beobachtender Natur. Wir stellen uns außerhalb.


"Wenn ich beobachte, unterscheide ich. Ich wäre vielleicht nicht auf den Gedanken gekommen zu unterscheiden." – Antoine de Saint-Exupéry, Carnets


Daneben gibt es kulturanthropologische Varianten von Ritualverständis, die weniger separate, aus dem Kontext heraustrennbare Handlungssequenzen hervorheben, sondern die Verflochtenheit solcher Performanzen mit dem generellen Weltwahrnehmungs- und -deutungssystem einer Kultur.

Die Teilhabe der Akteure am Ritualgeschehen kann dementsprechend auch noch andere Formen annehmen als die ironische Distanz, die verachtungsvolle Duldung, die romantische Rührung, die strategische Planung usw., die in unseren post-modernen Kontexten oft im Vordergrund stehen. Darunter die Begeisterung, Ekstase, Verschmelzung, Ehrfurcht, das gewalt(tätige) Mitgrissensein. Um sich der Suggestivität einiger Rituale auszuliefern zu können, braucht es Formen der Affirmation: der Bejahung eigener kultureller Wurzeln und Formen.


Damit wäre ich fast – im Sinne des Reich’schen Prinzips der Phasenverschiebung und in genußvoller Assoziativität - bei der ganzen aktuellen Debatte um nationalstaatliche Symbole angekommen. Fussballweltmeisterschaft als nationalstaatlicher Affirmationsversuch von unten (und ein wenig ja auch von oben).

Dazu mag jemand anders weiterschreiben.