Reformpädagogik

Die Odenwaldschule stand für konsequente Reformpädagogik. Eine Modellschule nicht nur für die UNESCO, sondern wohl für viele tausend Lehrer, für eine breite interessierte Öffentlichkeit auch, die an dieses und ähnliche Modelle die Hoffnung auf die bessere Schule in unserem Land schlechthin knüpften.


In diesen Tagen wird sie 100 Jahre alt. Und heute wissen wir, dass über Jahrzehnte dieses Jahrhunderts in einem geschlossenen System und unbemerkt von außen die schlimmsten aller denkbaren Verfehlungen passiert sind. Sexueller Missbrauch Schutzbefohlener in einem unvorstellbaren Umfang, teils auch unter Schülern und unter den Augen von Lehrern, also „Reformpädagogen“. Niemand reagierte auf die Schmerzensschreie, die durch das stille Tal hallten, wenn wieder mal einer „geeiert“ wurde, wie es einer der Betroffenen im Fernsehen schilderte. „System Becker“ nannten es die Involvierten wie die Zuschauer unter den Schülern – und keinem (Erwachsenen) fiel was auf. Staatsanwälte stellten vor 12 Jahren Verjährung fest, und man fragt sich, ob da keinem der Juristen Bedenken kamen, einfach die Aktendeckel zu schließen angesichts des zu vermutenden Weiterbestehens. Keine Schulaufsicht, die irgendetwas unternommen hätte. Was mich am meisten entsetzte, war die Reaktion des Nestors der Reformpädagogik, Hartmut von Hentig, der in einem SPIEGEL-Interview es doch nach all den öffentlich gewordenen Schandtaten fertig brachte, den (Busenfreund) Gerold Becker für unschuldig zu halten, gar zu unterstellen, die Jugendlichen hätten ihn verführt, den guten Menschen und tollen Pädagogen. Zum Glück hat kurz darauf der Beschuldigte endlich seine Verfehlungen öffentlich eingeräumt, so dass nun der reformpädagogische Gottvater selbst ein wenig bedröppelt dasteht.


Was wird nun aus dieser Einrichtung? Die amtierende Schulleiterin Margarita Kaufmann gibt sich ja wirklich alle Mühe. Aber kann der entstandene Schaden überhaupt einigermaßen überwunden werden? Hat die Reformpädagogik nach diesem Dilemma überhaupt noch eine Chance? Oder geraten jetzt im Nachhinein all ihre Vertreter und Verfechter nachhaltig in ein schiefes Licht? Verliert die Bewegung ihre Kraft?


Heute, Freitag, 16. April 2010, findet im Theatersaal der Schule eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema statt, die ab 15 Uhr vom HR in seinem dritten Programm live übertragen wird.