Reflexionen (1)

Allmählich komme ich dazu, die Ereignisse der vergangenen Woche zu reflektieren. Um die Fülle an Eindrücken zu ordnen, werde ich eine uralte und gleichzeitig zeitlose Gliederung verwenden: Mind, body, heart und soul. Oder auf Deutsch: Verstand, Körper, Herz und Seele. Nachdem die letzten Tage ziemlich vielsprachig waren, wir den Guten Morgen Gruß in mindestens 15 Sprachen ausgetauscht haben, sehen Sie mir bitte nach, wenn sich in meinen Beitrag mehr Englisches mischt als sonst. Mit Verstand meine ich: Was habe ich gelernt? Körper bezieht sich unter anderem auf das, was wir praktisch geübt haben, Herz meint Beziehungsgestaltung, Netzwerkpflege und Identität.


Aber lassen Sie mich mit der Seele beginnen. Schließlich bin ich ja Psychologe. In diesem Zusammenhang fällt mir ein: Kennen Sie eigentlich den Titel der ersten deutschen psychologischen Zeitschrift? Sie wurde von Karl Philipp Moritz Ende des 18. Jahrhunderts herausgegeben. Er nannte sie »Magazin für Erfahrungsseelenkunde«. Können Sie sich diese Worte auf der Zunge zergehen lassen? Ich finde es sehr erfrischend, im Kontext einer integralen Psychologie an solche Wurzeln anschließen zu können. Denn es ist ein langer Weg vom Mensch zum Psychologen. Aber Ernst bei Seite.

Übrigens ist gerade im Schattauer Verlag ein sehr interessantes, von Ulrike Anderssen-Reuster herausgegebenes Buch zur Achtsamkeit erschienen [http://82.139.217.185/gv/titles/schat2552.asp "Achtsamkeitsbuch"](http://82.139.217.185/gv/titles/schat2552.asp "Achtsamkeitsbuch"). In meinem Beitrag untersuche ich Achtsamkeit als psychotherapeutische und wissenschaftliche Methode vor dem Hintergrund des integralen Modells von Ken Wilber.


Aber zurück zu World Café und meinen Eindrücken von der spirituellen Seite der Veranstaltung. Nach einer weiteren Vorbemerkung. Praktische oder angewandte Spiritualität bedeutet für mich im Kontext von Organisationen nicht (nur) formale Meditation. Sie beginnt da, wo nach dem Sinn und der Bedeutung der eigenen Arbeit gefragt wird, wo es um das Wozu und die Schönheit des Handelns geht, wo es erlaubt ist, den Zusammenhang zwischen Wertschätzung und Wertschöpfung zu hinterfragen und nicht ausschließlich auf das zu achten, was ökonomisch unter dem Strich heraus kommt. Weder den Geist beschwören noch andere missionieren. Den Geist einladen. Stille zulassen. In unserer zerstreuten und hektischen Welt scheint es dafür allerdings immer wieder eine Erinnerung zu brauchen. Wie können wir dem Geist, oder wie auch immer wir das benennen, was sich eigentlich nicht benennen lässt, im privaten und beruflichen Alltag Raum geben? Dem Geist, der nicht durch konfessionelle Parteibücher eingefangen werden kann, und der in Dresden, einer Stadt, in der 15 % der Bevölkerung einer Kirche angehören, ebenso weht wie in dem Freiburg meiner Schulzeit, als eigentlich alle außer mir im Religionsunterricht waren?


Am Dienstag Nachmittag (1. Mai) fand ein letztes Vorbereitungstreffen des Gastgeberteams für das Gespräch über Innovation statt (mit Jeffrey Beeson in der Mitte, Pierre Goirand, Margaret Warton-Woods, Ilona Christl, Hanno Langfelder und mir). Ich war für einige der gemeinsamen Achtsamkeitsmeditationen zuständig. Es zeichnete sich ab, dass für diesen Teil der Veranstaltung weitere Abstimmung erforderlich war. Wie günstig, dass Ilona und Pierre bei mir zuhause zu Gast waren, so konnten wir am Mittwoch Vormittag (2. Mai) den Übungszyklus noch einmal durchgehen und ein letztes Feintuning vornehmen, bevor es mit der Ruhe vor dem Sturm dann ganz schnell zu Ende war (vgl. meinen Beitrag vom 2. Mai).


Am Mittwoch Nachmittag habe ich im Tagungshotel zusammen mit meiner Frau einen der Boardrooms in einen Raum der Stille verwandelt. Mit dem seit Jahrhunderten bewährten Zubehör aus der Zen-Meditation: Sitzmatten und Sitzkissen, eine Kerze, Räucherstäbchen, ein Blumengesteck. In gewissem Sinne blieb der Raum ein Sitzungszimmer, wobei sich das gemeinsame Sitzen, wie es im Zen-Jargon genannt wird, doch etwas von anderen Sitzungen unterscheidet. Es war eine Anregung meiner Frau, den Raum der Stille und nicht der Meditation zu widmen, was die Akzeptanz dieses Angebots vermutlich erhöht hat. Fotos aus diesem Raum finden sich zusammen mit anderen Bildern von der Tagung auf [www.flickr.com](http://www.flickr.com/photos/8007839@N02/page3/). Durch die gute Resonanz der Teilnehmer auf diesen Ort hat sich dessen Atmosphäre im Laufe der Tage stark verändert. Ich wüsste gern, welche Art von Entscheidungen darin in den nächsten Tagen getroffen werden.


Am 3. Mai, Donnerstag also, wurde das Erste World Café European Gathering mit dem Gespräch in der Frauenkirche über Weltfrieden und Versöhnung eröffnet. Ein zweisprachiges Café, auf Englisch und Deutsch, passend zur Geschichte der Frauenkirche, die kurz vor Kriegsende 1945 zusammen mit der Dresdner Innenstadt und zigtausenden von Menschen (die Schätzungen schwanken zwischen 30.000 und 300.000) dem Erdboden gleichgemacht wurde. Zwar wurde die Kirche selbst nicht bombardiert, aber die andauernde Hitze der Brände ringsum machte den Sandstein brüchig und brachte die Mauern unter der schweren Kuppel schließlich zum Einsturz. In den letzten Jahren wurde die Frauenkirche neu erbaut, vor eineinhalb Jahren wieder eingeweiht. Das Kreuz auf der Kuppel der Frauenkirche wurde von einem englischen Goldschmied angefertigt, dessen Vater als Pilot an dem Angriff auf Dresden beteiligt war. Brücken der Versöhnung bauen, das ist das Motto der Frauenkirche. Versöhnung also auch das Thema des ersten Dialogs der Tagung.

Wir sprechen in mehreren Runden über Versöhnung. Ich erzähle drei Menschen, die ich nicht kenne, von einer Begegnung mit meinem Vater. Ich habe ihn vorletztes Jahr in Spanien besucht, um ihm einen Brief vorzulesen, in dem ich ihm meine tief empfundene und viele Jahre verweigerte Wertschätzung ausgedrückt habe. Damals erhob sich mein Vater sich so schnell wie seit Jahren nicht mehr aus seinem Sessel, kam auf mich zu und nahm mich in die Arme. Eine Umarmung, auf die ich ein Leben lang gewartet hatte, ohne es zu wissen. Das ist mein Zugang zu Frieden und Versöhnung. In der nächsten Gesprächsrunde erzählte ein Teilnehmer von der Beziehung zu seiner Mutter und wie diese Beziehung seine Art, auf die Welt zuzugehen, ein Leben lang geprägt hat. Die Gesprächsrunde ist vorbei, bevor ich selbst ausführlicher zu Wort komme. Ich kann ihn nur kurz auf die Bedeutung hinweisen, die der Begriff Versöhnung für mich mittlerweile erhalten hat, und ich sehe an seiner Reaktion, dass die Worte ihn treffen und betreffen. In der Abschlussrunde sprechen wir darüber, wie wir in unserem Alltag Versöhnung leben können. Ein Begriff stellt sich für mich ein: Mut. Versöhnung erfordert Mut, auf andere zuzugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.


Unter den Teilnehmern des Gesprächs in der Frauenkirche sind auch Anne Dosher, Juanita Brown, David Isaacs und Tom Hurley aus Kalifornien. Juanita und David haben World Café 1995 entdeckt, gefunden, gegründet, entwickelt, je nach dem, wer die Geschichte erzählt. Zusammen mit Anne und Tom stehen sie der internationalen World Café Stiftung vor.


In einem Interview auf dem Dresdner Neumarkt, mit der Frauenkirche im Hintergrund, erzählt Anne Dosher von ihrer besonderen Beziehung zu Dresden. Sie sitzt in einem faltbaren Regiestuhl, hat sich die Sonnenbrille des Kameramannes ausgeliehen, und sieht mit ihren 84 Jahren ausgesprochen cool aus. Damals, 1945, arbeitete sie im Hauptquartier der Royal Air Force, von wo aus der Angriff auf Dresden koordiniert wurde. Nach dem Krieg ist sie ihrem Mann in die Vereinigten Staaten gefolgt, wo sie bis heute lebt. Sie hat gezögert, der Einladung nach Dresden zu folgen, weil ein Besuch in Dresden für sie bedeutete, sich den schmerzlichen Erinnerungen aus den Jahren des Krieges stellen zu müssen. Heute ist sie dankbar, lange genug gelebt zu haben, um zu erleben, wie sich mit dem Besuch in der wieder aufgebauten Frauenkirche der Kreis für sie schließt. Frieden und Versöhnung. Der Kameramann stellt ihr eine letzte Frage, ich übersetze: Gibt es noch etwas, das Dir am Herzen liegt, und das Du erzählen möchtest? Sie erzählt, wie sie nach dem Krieg mit den Britischen Truppen in Eindhoven in ein Übergangslager kommt. Sie begegnet ehemaligen KZ-Häftlingen und sagt zu ihrem Vorgesetzten: »Wie können wir Menschen so etwas antun?« Er antwortet ihr: »Das waren nicht wir, das waren die Deutschen.« Sie wollte mit »wir« jedoch nicht die Engländer, sondern Menschen im Allgemeinen ansprechen. Diese Situation hat ihr Leben geprägt. Seit dem habe sie nach Wegen gesucht, Konflikten nicht mit Krieg, sondern mit Gesprächen zu begegnen. Und so setzt sie sich noch heute, mit über 80 Jahren, für eine Kultur des Dialogs ein.


(Fortsetzung folgt)