Reflection-in-Action

Heute sitze ich in München. Gestern waren wir noch im Gebirge, zum Wandern, über das erste Juli-Wochenende, so wie jedes Jahr. Vor ein paar Jahren hatte ein Münchner Personalberater angefangen, gestandene Manager zu einem Wanderwochenende einzuladen, mit Berg, Hüttenzauber und Gemeinschaftslager. Es sollte ein Incentive zur Kundenpflege sein, aber auch noch ein bisschen mehr. “Kannst du da nicht so was Systemisches machen, so Coaching oder wie in der Teamentwicklung, damit das etwas Besonderes wird?”, war die Anfrage. Damals wurde Reflection-in-Action geboren. Die Idee war es, zur Reflexion zu verführen. Es sollte ähnlich einer Pilgerwanderung oder einem Retreat die Begegnung mit sich selbst sein. Sollte es. Auf große Interventionen wollten wir verzichten. Das Reflektieren würde sich schon von alleine einstellen. Und es sollte nicht zu anspruchsvoll sein. Eine einfache Tour, eine zünftige Hütte und alles weitere würde sich finden.


Im ersten Jahr reflektierte nichts. Schneller Anstieg auf die Hütte, frühe Ankunft, das erste Bier, der erste Kurze, Männerwitze, Langeweile. Noch vor der Nacht wurde wieder abgestiegen, in Bad Reichenhall war Festwochenende. Ein Zug über’s Fest. Charmieren bei den Dorfschönen, Durchhalten bis zum frühen Morgen. Wie gesagt - es reflektierte nichts. Aus der Reflexion des Pilgers war eine Männertour der intensiveren Art geworden. Wie nah doch so etwas zusammenliegt.


Das war vor vier Jahren. Da sich die Eingeladenen dennoch köstlich amüsiert hatten, kam es zur Wiederholung. Jahr für Jahr. Wir versuchten aus den Erfahrungen des ersten Jahres zu lernen. Das Einzige was uns einfiel, war, die Strecke zu variieren, sodass an schnellen Abstieg nicht mehr zu denken war. Wir wollten die Gruppe ein wenig länger zusammenhalten, was gelang. Mit der Aufforderung zur Reflexion hielten wir uns eher beschämt zurück. Nur der Titel der Veranstaltung blieb als Erinnerungsposition erhalten.


Und heute sitze ich in München. Vorgestern auf der Tour hatte es geregnet. Die Strecke war etwas überambitioniert ausgesucht - 1200 Höhenmeter bis zum Gipfel, dann Abstieg auf die Hütte. Es war nass, es war kalt, man hat vor lauter Nebel wenig gesehen. Das ging bis an die Grenzen der Konstitution. Es war nicht das, was man sich erhofft hatte. Kein weiß-blauer Himmel, keine verzaubernde Fernsicht, keine wohlige Sommersonne. Und dennoch, heute Morgen steht das Telefon nicht still. Bestes Feedback aus allen Ecken. Schon auf der Tour hatte das angefangen. Unter der regennassen Kapuze den Blick starr auf die Fersen des Vordermanns geheftet, Gespräch unmöglich, allein mit sich. “Guten Tag, du Selbst, was tust du da gerade? Muss das sein? Wie geht es dir dabei? Willst du das? Was willst du eigentlich wirklich?” Die Selbstgespräche entlang dieser selbst erfahrenen Fragen fielen ebenso intensiv aus wie das erst verschämte und dann intensive Teilen derselben mit den andern. Erst das Gespräch mit dem, der auch zurückgefallen war und so heftig keuchte; dann mit dem, der einen mit ermunterndem Zuspruch bedachte und der einen bis zum Gipfel begleitete, weil man ihn darum gebeten hatte, dass einer mit Kraftreserven einen begleiten sollte; und zuletzt mit dem, der verfroren am Gipfelkreuz wartete. An dem Abend auf der Hütte wurde wenig getrunken, aber sehr viel gesprochen.


Einer hat heute mit dem Rauchen aufgehört, ein anderer hat die Termine des nächsten Wochenendes abgesagt, um bei seiner Familie sein zu können, ein dritter hat die Unterlagen, mit denen sein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber eingeleitet werden sollte, zurückgegeben, ein vierter hat genau nach diesen Unterlagen gefragt. Es ist viel passiert da im Regen. Wie nah das doch alles beieinander liegt. Aber ist das nur eine Frage des Wetters? Ist Kurzzeitreflexion ähnlich wie Kurzzeittherapie möglich? Muss es dafür regnen, oder was macht den Unterschied?