Psychose-Epidemie

Ich lese gerade ein bemerkenswertes Buch: "Anatomy Of An Epidemic" von Robert Whitaker.


Der Autor untersucht die Frage, wie es kommt, dass seit Einführung der Neuroleptika-Therapie (speziell der Langzeitbehandlung) die Zahl der wegen einer Psychose berenteten Amerikaner (pro 1000) sich vervierfacht hat.


Den Versprechungen und den Theorien der Main-Stream-Psychiatrie gemäß sollten die Zahlen eigentlich ungekehrt sein.


Whitaker widmet sich den Theorien der biologischen Psychiatrie und zeigt, dass die - vermuteten - Mechanismen der Symptombeseitigung in der Akutphase einer Psychose (Reduktion der Dopaminwirkung an den Synapsen) auch die Erhöhung der Rückfallgefährdung bei Langzeitmedikation erklären kann (Steigerung der Zahl der postsynaptischen D2-Rezeptoren als Gegenregulations-Phänomen der Hemmung der Dopaminwirkung durch Neuroleptika).


Die hard facts sind ziemlich eindeutig und sie sind seit 30 Jahren bekannt (allesamt in hochseriösen Journals publiziert). Doch ihre Interpretation ist strittig.


Das Problem ist, dass bei der Wirkung von Psychopharmaka immer unterstellt wird, sie hätten eine kausal kurative Wirkung, d.h. aus ihrer Wirkung wird auf die Ursache psychotischer Symptombildung gefolgert.


Das ist - aber dies ist jetzt mein Vergleich - so, als ob aus der Wirkung von Aspirin geschlossen würde, Kopfschmerzen seien eine Folge von Aspirinmangel.


Das ist erkenntnistheoretisch nicht nur ziemlich leichtfertig, sondern auch gefährlich, was die Interpretation der Medikamenten-Wirkung angeht. Auf diese Weise wird nämlich übersehen, dass Langzeitneuroleptika offenbar gerade das produzieren, was sie verhindern sollen: chronisch kranke oder behinderte Menschen.


In der Zeit vor der Einführung der Neuroleptika wurden etwa 65% aller erstmals wegen einer schizophrenen Psychose hospitalisierten Patienten nie mehr rehospitalisiert. Danach waren es nur noch 5%.


Erschreckende Zahlen.


Ich persönlich habe - solange ich als Psychiater arbeitete - immer die These vertreten, dass die Neuroleptika-Gabe in der Akutphase nützlich ist, um alle Beteiligten zu beruhigen (also auch die Angehörigen und das medizinische Personal). Aber dies als kausale Therapie anzusehen, fand ich immer ziemlich voreilig. Und eine Dauermedikation mit Neuroleptika erschien mir immer als riskant. Denn - da beisst die Maus keinen Faden ab und alle hard facts belegen dies - Neuroleptika wirken, indem sie Hirnschäden verursachen. Sie reduzieren die Kreativität des Patienten. Und Kreativität ist die Voraussetzung jeder Psychose.


Ein Jammer, wieviel kreative Menschen in den letzten Jahrzehnten auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen wurden... (um nicht zu sagen: ein Verbrechen).


Auf YOUTUBE gibt es ein Video mit einen langen Interview mit Robert Whitaker: http://www.youtube.com/watch?v=pm77RQdtpSY