Präludium und was sonst so anfällt

Liebe Leserin, lieber Leser,


was mag den Verantwortlichen des Carl-Auer-Verlags durch den Kopf gegangen sein, als sie auf den Begriff "Systemische Kehrwoche" verfielen? Als Gebildeter wendet man sich an den Großen Duden, an das etymologische Wörterbuch von Kluge und ähnliches Schrifttum und stellt fest, daß es diesen Begriff dort nicht gibt. Allerdings gibt es dort den Kehricht (=Ergebnis kehrwöchlicher Bemühungen) und die Kehrordnung, die jedoch nichts mit der Kehrwoche zu tun hat, sondern die Abfolge des Apothekendienstes in Zürich bezeichnen soll. In alltagsweltlicher Einstellung - immer ein guter Leitfaden - fällt mir Folkloristisches zu den deutschen Regionen ein, und als im badischen Schwarzwald aufgewachsener Mensch kommen mir sogleich Kabarettstückchen zur sprichwörtlichen schwäbischen Kehrwoche in den Sinn (in der Diktion von Matthias Richling). Demnach ist die Kehrwoche eine ureigene schwäbische Erfindung, die vornehmlich dazu dient, in Hausgemeinschaften (fürchterliches Wort, da fallen mir Blockwarte und entsprechende frühere Funktionen aus deutschen Landen ein) über ein Instrument zu verfügen, welches das Verhältnis der Hausgenossen (siehe oben) zum Thema sozialer Ordnung im Allgemeinen und zur sozialen Ordnung des Klein- oder Spießbürgers im Besonderen mißt: Zeige mir, wie du die Kehrwochenpflichten erfüllst, und ich sage dir, ob du einer von uns bist oder ob man auf dich aufpassen muß. Aber auch andersherum: Beim Zusammenfegen von Unrat im Hause kommt so manches zutage, das einem etwas zeigt über die Hausgenossinen und -genossen, vielleicht findet sich neben Zigarettenkippen, benutzten Kondomen etc. auch die eine oder andere Münze darunter, das wäre dann das Gegenstück zu Kehricht.


Also, liebe Leute vom Auer-Verlag: was habt Ihr Euch bei diesem Begriff "Systemische Kehrwoche" gedacht? Aber andererseits: Im Zeitalter des Radikalen Konstruktivismus, dessen Geist hier, vom Weinberg (Klaus Deissler!) kommend, durch die Wilhelm-Roser-Straße in Marburg herab weht, kann sich jede(r) unter "Kehrwoche" denken, was er (oder sie) will. Vorerst will ich mich an den alltäglichen Sprachgebrauch halten, schließlich bin ich als phänomenologisch primärsozialisierter Soziologe darauf geeicht.


Beim Lektorieren von Beiträgen zu unserem Tagungsband über Resilienz stolperte ich heute über den Begriff "Fallvignette". Im Duden-Fremdwörterbuch versteht man unter Vignette "Zier-, Titelbildchen, Randverzierung (in Druckschriften)". Das kommt meinem Verständnis von Fallvignetten schon sehr nahe. Miles & Huberman haben in ihrem Handbuch Qualitative Forschung eine charmantere Definition zu bieten, sie widmen diesem Begriff gleich drei Seiten (81-83). Fallvignetten können ihnen zufolge der kurzen Beschreibung oder der Illustration eines Sachverhaltes dienen, und sie dienen dazu, "a focused description of a series of events taken to be representative, typical, or emblematic in the case you are doing" zu liefern. Das ist das Problem. Fallvignetten sind schöne Geschichten, deren Glaubwürdigkeit auf der Bereitschaft des Lesers oder der Leserin beruht, diese Glaubwürdigkeit zu unterstellen. Der Gebrauch von Vignetten setzt demnach eine Vertrauenbeziehung zwischen Autor und Leser voraus. Welchen Anlaß sollte man aber haben, dem Autor (der Autorin) zu vertrauen? Zumal, da Fallvignetten in der Regel von erfolgreichen Therapien oder Beratungen berichten, Fallvignetten des Scheiterns habe ich noch nicht gelesen, das wären dann ja auch keine Randverzierungen, sondern Randverschmutzungen. Die Alternative zur Fallvignette wäre eine Fallrekonstruktion, die der Leserin oder dem Leser die Möglichkeit an die Hand gibt, anhand von Material selbst zu überprüfen, ob aus ihrer oder seiner Sicht die im Fallbericht enthaltenen Schlußfolgerungen zutreffend sind oder andere möglich wären. Das heißt: Fallvignetten passen in Fest- und Sonntagsreden, aber nicht in Fachliteratur.


Fallvignetten, anders gesprochen, sind Pseudo-Legimitationen von Behauptungen, vergleichbar der Gepflogenheit, in Rundfunk- oder Fernsehnachrichten den Originalton mitlaufen zu lassen, während der Sprecher von einem Dolmetscher übersetzt wird, um dem Zuhörer zu suggerieren, der Dolmetscher habe schon alles richtig gemacht, und er könne ja mit einem Ohr auf den Originalton und mit dem anderen auf den Übersetzer hören, das ist doch ein Klacks.


Zu guter Letzt:


Fährt man mit der Bahn von Erfurt nach Nordhausen (dort entsteht an der Fachhochschule gerade ein Mitteldeutsches Netzwerk systemische Forschung, was zu gesteigerter Reistätigkeit dorthin führt), ertönt etwa 10 Minuten vor Ankunft eine Durchsage:


"Nächster Halt Glückauf. Bedarfshalt. Zum Aussteigen bitte Haltewunschtaste drücken".


Letzten Mittwoch hatte niemand einen entsprechenden Bedarf.


Bis morgen dann, Ihr


Bruno Hildenbrand