Präludium: Umgang mit unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen

Nun geht also der Kelch des "Webloggens" an mich. (Gibt es eigentlich auch ein deutsches Wort dafür? Vielleicht: "Netzwerktagebuchschreiben"? Naja, dann vielleicht doch "webloggen", oder?) Ich muss gestehen, bevor "Carl Auer" an mich mit der Frage herangetreten ist, ob ich mich nicht an der Kehrwoche mit einem "weblog" beteiligen möchte, wusste ich überhaupt nicht, dass es so etwas gab, geschweige denn, dass das wohl der neueste oder "hipste" Schrei im Internetzeitalter sei. Man lernt eben nie aus.


Und eigentlich hat mich dieses Angebot nicht gerade unter den günstigsten Umständen getroffen, denn vor ein paar Monaten haben wir (meine Familie und ich) uns ein altes Bauernhaus gekauft und sind gleich in das renovierungsbedürftige Haus gezogen, um Miete zu sparen und für die not-wendigen Baumaßnahmen vor Ort zu sein. Die Folge ist, dass ich nun ganz ohne meine geliebte Bibliothek dastehe, die ist nämlich jetzt erst einmal im Stallgebäude eingelagert. So bleibt mir für die Unterstützung meiner Gedanken nur noch die Festplatte meines Computers, das Internet und mein Gedächtnis.


Webloggen heißt ja - wenn ich es richtig verstanden habe - seine ganz persönlichen Gedanken, Erfahrungen und Gefühle in ein (elektronisches) Tagebuch zu schreiben, mit dem Unterschied allerdings, dass - im Zeitalter des Exhibitionismus des Privaten - jeder, der möchte und darüber informiert ist, mitlesen kann. Offensichtlich bin ich selbst nicht frei von dieser Form des Exhibitionismus, dafür war das Angebot zu verlockend, zumal es - ich gebe es zu - noch eine kostenlose Werbung beinhaltet. Also: Ab auf meine [Website: www.klaus-muecke.de](http://www.klaus-muecke.de)!


Wieder da? Wie war's denn so?


Wenn man im psychosozialen bzw. im Beratungs-Bereich tätig ist, dann ist das mit der Veröffentlichung der eigenen Sichtweisen und Erfahrungen so eine Sache, denn selbst bei der bloßen und harmlosen "Beschreibung" eines Phänomens fließt - ob man will oder nicht - die eigene Wirklichkeitskonstruktion unmittelbar mit ein. Das öffentliche bzw. allen zugängliche Wissen um zumindest einen Teil der eigenen Wirklichkeitskonstruktion ist für den therapeutischen Kontext nicht ganz unproblematisch, zumal wenn es darum geht, sich zunächst - soweit wie möglich - vorbehaltlos zu begegnen. Aus diesem Grunde bitte ich jetzt schon darum, die von mir hier dargelegten Betrachtungen, Weltanschauungen (eben: Wirklichkeitskonstruktionen) aktiv zu vergessen, also zu verdrängen, wenn Sie sich entschließen sollten, einmal mein Kunde/meine Kundin zu werden. Wobei mir bewusst ist, dass das ja nur schwerlich geht - zumindest aber könnten Sie dann wenigstens "so tun, als ob". (Für alle anderen gilt: Ich streite mich gerne über die angemessene Interpretation der Welt – wenn dieser Streit respektvoll geführt wird.)


Warum ist dieses mehr oder weniger unmögliche Unterfangen für den Kontext der Systemischen Beratung not-wendig? Weil das öffentliche Bekenntnis bzw. der öffentliche Kontext (beim Webloggen oder der eigenen Website) etwas andere Bedingungen aufweist als der therapeutische bzw. beraterische Kontext: Während in der Öffentlichkeit der Streit der Meinungen und Überzeugungen (Wirklichkeitskonstruktionen) im Vordergrund steht und – besonders wenn dieser im gegenseitigen Respekt voreinander geführt wird – zu einem für die Sprach-Kombattanten nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn führen kann, geht es im beraterischen Kontext ja nicht darum, die Kund/inn/en - oder im umgekehrten Fall: die Berater/innen - von der eigenen Wirklichkeitskonstruktion zu überzeugen, vielmehr handelt es sich darum, zusammen für ein bestimmtes Problem eine neue Wirklichkeitskonstruktion bzw. eine entsprechende Erzählung (Narrativ) zu entwickeln, so dass eine Lösung des entsprechenden Problems angeregt bzw. von den Kund/inn/en gelebt werden kann.


Dabei sind für den Beratungsprozess folgende Grundlagen von entscheidender - weil lösungsrelevanter bzw. zieldienlicher - Bedeutung:


1. Der/die Berater/in sollte davon ausgehen, dass die Erzählung (Wirklichkeitskonstruktion) seiner/ihrer Kund/inn/en der „Wahrheit“ entspricht. Dementsprechend wäre dann mit dieser Wirklichkeitskonstruktion zu arbeiten. Dabei kann er davon ausgehen, dass die Kund/inn/en immer – das heißt, auch bei psychotischen Erlebens- und Verhaltensweisen – gute Gründe für ihre Sichtweisen und Handlungen haben. Hier stellt sich also die Frage: Wie kann die entsprechende Wirklichkeitskonstruktion der Kund/inn/en für die Lösung der berichteten (beklagten) Probleme genutzt werden (Ericksons Utilisationsprinzip).

2. Dagegen sollte der/die Berater/in seine Wirklichkeitskonstruktion ausschließlich dazu nutzen, Hypothesen zu bilden und auf der Basis von ihnen ungewöhnliche Fragen im Sinne von Tom Andersen zu stellen, also Fragen, die sich die Kund/inn/en bisher noch nicht gestellt haben, so dass Prozesse angeregt werden können, wodurch die längst bei den Kund/inn/en vorhandenen Lösungen im Sinne veränderter Sicht- und Umgangsweisen sichtbarer und erlebnisnäher und/oder leichter in Handlungen umgesetzt werden können.


Es geht also in der Beratung nicht um einen Wettstreit von Wirklichkeitskonstruktionen, sondern um ihre bloße Nutzung. Selbst wenn der/die Berater/in eine bestimmte Wirklichkeitskonstruktion eines Kunden/einer Kundin nicht teilt, so kann und sollte er ihre subjektiv immer gegebene Berechtigung teilen, wenn er sich – und das ist eine wichtige Einschränkung – mit den von den jeweiligen Kund/innen vorgegebenen Zielen (emotional) verbünden kann, sie also für in ethischer Hinsicht erstrebenswert oder wenigstens unbedenklich hält.


Wenn jetzt aber den Kund/innen die ganz persönliche Sichtweise bzw. Wirklichkeitskonstruktion des Beraters/der Beraterin bekannt ist - und das ist das Problem beim Webloggen, auf das ich hinauswollte -, kann das den Beratungsprozess deswegen erschweren, weil gemeint werden könnte, es handele sich bei der Beratung um das Verabreichen von Rat-Schlägen, also um den Kampf für die einzig „richtige“ und „wahre“ Wirklichkeitskonstruktion. Ich möchte hier aber noch einmal betonen, dass das nicht der Job des Beraters/der Beraterin ist.


Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Angenommen, ein Kunde mit einer stark religiös geprägten Wirklichkeitskonstruktion kommt zu einer Beraterin, die im öffentlichen Kontext beispielsweise des Webloggens sich als bekennende Atheistin geoutet hat, könnte es dem Kunden schwer fallen, die Beraterin ernst zu nehmen, wenn sie seine religiöse Wirklichkeitskonstruktion nutzt, um Anregungen zu geben, besser mit seinem Problem (zum Beispiel dem Tod eines nahen Verwandten) umgehen zu können. Dadurch könnte der Beratungsprozess empfindlich gestört werden.


Aus diesem Grunde ist es im Beratungskontext günstiger - um es noch einmal zu sagen - die Überzeugungen des Beraters/der Beraterin nicht zu kennen oder wenigstens so zu tun, als würde man sie nicht kennen.


So, jetzt bin ich noch einmal - zumindest hinsichtlich meiner religiösen Überzeugungen - davongekommen.


Übrigens noch eins – als Vorgeschmack auf die kommenden Einträge:

Nichts, was ich hier schreibe, sollte dogmatisch verstanden werden – schon weil das der (systemtheoretischen) Ethik zweiter Ordnung widerspräche, auf die ich an einem der nächsten Einträge noch etwas ausführlicher eingehen werde, denn es gilt:


Alles, was dogmatisch gesagt wird, ist falsch (gesagt) - und auch das und auch das und auch das und auch das und ...


Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird es Leser/innen geben, die alles, was ich schreibe, dogmatisch lesen werden – Maturana lässt grüßen. Ich aber werde dann - ganz unerbittlich - auf den vorhergehenden Satz hinweisen.


Noch irgendwelche Fragen?