Politische Psychiatrie

In der taz von heute stehen mehrere Artikel zur Psychiatrie in Russland. Es werden gerade Gesetzte vorbereitet, die eine präventive Zwangshospitalisierung potentiell psychisch gestörter Gesetzesbrecher erlauben (wohlgemerkt: es geht um Menschen, die noch keinerlei Gesetz übertreten haben).


Die Sorge ist nun, dass solch ein Gesetz - wie in früheren Zeiten - dazu genutzt werden könnte, politisch anders Denkende zu psychiatrisieren, wie das in der Sowjetunion ja zu Hauf geschehen ist.


Dass die Psychiatrie immer Gefahr läuft, politisch genutzt zu werden, sollte jedem bewußt sein, der dort arbeitet. Auch, wenn dies nicht immer so eklatant und offensichtlich ist: Alle psychiatrische Arbeit ist hoch politisch. Denn die Psychiatrie hat eigentlich immer zwei potentielle "Kunden", deren Interessen nicht immer übereinstimmen: Den Einzelnen, der als Patient leidet wird als Patient definiert wird, und die Gesellschaft (repräsentiert durch den Staat), die an ihm oder unter ihm "leidet".


Ausgrenzung von Störern ist eine der Komplexität reduzierenden, gesellschaftlichen Funktionen von Psychiatrie, die man als in der Psychiatrie Beschäftigter immer auch übernimmt, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. Und manchmal ist es die einzige Funktion, die man erfüllt.


Im Idealfall (Gottseidank nicht so selten) kann man aber auch einem an sich und/oder der Gesellschaft leidenden Einzelnen helfen - und das wollen ja zweifellos die meisten der Kollegen. Das eine schließt das andere nicht zwangsläufig aus.


Das ist zwar alles weit vom Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion weg, aber Misstrauen ist auf jeden Fall angesagt, denn die prinzipiell ambivalente Funktion der Psychiatrie ist nicht zu leugnen.