Perspektivenwechsel

Die "Änderung der Sicht" durch den Wechsel der Perspektive ist ein wesentliches Element der systemischen Therapien, in unserem beruflichen Kontext ist das ja wohl bekannt - sei es durch das zirkuläre Fragen oder durch Systemaufstellungen. Beim Neuro-Imaginativen Gestalten (NIG), einem systemischen Vorgehen, das wir im unten genannten Buch vorstellen, nehmen wir für den "Blick durch die Augen des anderen" als Bodenanker verwendete Skizzen, um "im Bilde" zu sein über die Sichtweise beteiligter Personen. Auch der Blick aus der sogenannten Metaposition, einer Position, die sich außerhalb des Beziehungszusammenhangs befindet, spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.


"Gelänge es uns häufiger, bewusst durch die Augen des anderen zu schauen und könnten wir dies als eine Gewohnheit in unseren Alltag hineinnehmen, so liefe manches anders." (E.Madelung u. B.Innecken: Im Bilde sein, Carl-Auer-Systeme Verlag 2003, S.53)


Perspektivenwechsel im Alltag?? Ein löbliches Unterfangen, denke ich mir und nehme mir heute vor, damit ein bisschen gedanklich zu spielen.


In aller Frühe veranstalte ich einen sehr handfesten Kehr-Morgen in unserem Haus, das außer von meinem Mann und mir von unseren drei ziemlich jugendbewegten Kindern nebst ihrem Anhang bewohnt wird. Es gilt, die Spuren des Wochenendes zu beseitigen.

Meine eigene Sichtweise: Ich ärgere mich über überquellende Papier- und Wäschekörbe, einen verdreckten Grill und miserabel aufgeräumte "Kinder"zimmer und nehme mir zum x-ten Mal vor, an den Zuständigkeiten im Haus etwas grundlegend zu verändern...

Die Sichtweise meiner Kinder: Blieb mir zunächst verschlossen. Erst der Blick durch die Augen des Kindes, das ich selbst einmal war, erinnerte mich an den Kampf meiner Mutter gegen meine Unordnung und daran, wie lustbetont und auf mich bezogen ich damals zu leben liebte...

Die Sicht aus der Metaposition: Es sieht so aus, als gehöre dieses Chaos zu Wochenbeginn zu den Dingen, die die Hausfrau und Mutter B.I. bis zu einem gewissen Grade bereit ist, hinzunehmen...


Für wen diese Erkenntnis wohl ein Gewinn sein mag?


In meiner Praxis merke ich, dass mir der Perspektivenwechsel in der Arbeit mit meinen Klienten wesentlich leichter fällt. Die starke Betonung auf das "Schauen durch die Augen des anderen", auf das Verstehen und Annehmen unserer Klienten und ihrer Familien gehört wohl zur beruflichen Grundausstattung von uns Therapeuten. Aber ich muss innerlich immer wieder einen Schritt auf die dissoziierte Metaposition hinaus tun, um den Überblick bewahren zu können. So manches Mal erlebe ich mich gefangen in der eigenen Sichtweise, aber im guten Falle nutze ich das eigene Erleben, um dem Klienten durch meine Wahrnehmungen, Gefühle und Körperreaktionen ein Spiegel sein zu können.


Am Abend dann noch ein Perspektivenwechsel anderer Art: mein Mann erinnert mich daran, wie wir vorgestern an einem wunderschönen Abend mit dem Dampfer auf dem See fuhren und uns verzaubern ließen von der ungewohnten Sicht vom Wasser aus auf uns wohl vertraute Orte an Land.