Performance I – Riesenpenise und DV-Kameras

Hallo liebe LeserInnen,


wann haben sie zum letzten mal in fremdem Terrain gewildert? Eine unsinnige oder Fachgrenzen sprengende Frage gestellt oder am „Witz“ eines Freundes, Kollegen oder Unbekannten (vielleicht von der hinteren Rehe ihres ICE-Sitzplatzes oder ihres Flachbild-Monitors) schamlos lachend teilgehabt?


Stimmt es, dass es nur in Australien

lüsterne Krokodile gibt?

...


Wenn all die Flüsse doch süß sind,

woher hat das Meer soviel Salz?

...

(Pablo Neruda, Buch der Fragen)


Der Blog-Kult ist bislang ziemlich an mir vorbeigegangen, also habe ich mir diese Woche eine hoffentlich interessante Form der Selbsterziehung verordnet: Wie schreibt man eigentlich (relativ) spontan in ein so heterogenes Feld von Interessen hinein?

Ich werde in dieser Woche (wahrscheinlich) über Rituale schreiben. Und über „Rausch“, Ekstase, Begeisterung.


###Anpfiff###

Australien: ich gestehe, dass mich der Brasilianische Sieg beim WM-Spiel gestern leicht geärgert hat (Fussball-Genervte: bleibt dabei.). Allerdings mochte ich die Samba-Musik, die noch für Stunden danach durch die engen Gassen der Heidelberger Altstadt rauschte. Angenehmer als das hochfrequente, staksige Besoffensein der deutschen Fans nach dem Polen-Spiel am letzten Mittwoch: Wissen wir Deutschen immer noch nicht so recht wie feiern?

Es ist besser, anders geworden in den letzten Jahren. Und ich habe mir einen doppelten Blick auf solche Performances des Feierns angewöhnt, inspiriert durch meine Arbeit im Sonderforschungsbereich „Ritualdynamik“ an der Universität Heidelberg [(http://www.ritualdynamik.uni-hd.de)]. Der Tanz des Wir-Seins, das Ritual der Nation, (oder der Familie) ist nicht durch zirkuläres Umkreisen allein zu begreifen, man muss auch teilhaben.


###Hüllen###

In unserem Buch „Rituale erneuern“, das in den nächsten Wochen erscheint, beschreibt Klaus-Peter Köpping verschiedene Feste der Transgression, der Grenzüberschreitung aus ethnologischer Sicht: Ein japanisches Dorf trägt Riesenpenise in einer Prozession umher, es geht um Fruchbarkeit, die Verehrung der örtlichen Gottheiten, die Erneuerung der Dorfgemeinschaft. Die Touristen kommen, immer mehr: das Ritual wird zu einer folkloristischen Aufführung. Bald gibt es mehr DV-Kameras als Fruchtbarkeitssymbole. Der japanische Staat bezahlt den Dörflern die Performances, eine lukrative Einnahmensquelle wird daraus. Die Dörfler üben neue Rollen und Formen ein: es gibt eine Aufführung für die vielen Beobachter in der ersten, zweiten, dritten Reihe (und hinter dem „Spiegel“ der Kameras). Und es gibt eine Aufführung für das Dorf selber, für den inneren Kreis. Aber die Rituale verändern sich, aus mimetischer Spontaneität wird geplante Tradition. Körperlichkeit wird eine Inszenierung für das Auge.


###Enthüllungen - Auf der Suche nach Formen###

Gesellschaft, Gemeinschaft, Familie, Schule braucht Momente der Ekstase. Nicht nur Rituale der Reflexion. Ekstase meint „Heraus-stehen“, Heraustreten aus dem Gewöhnlichen, Ich-haften - nicht nur im Glück, aber immer in einer Form von Bejahung des Augenblicks, die nicht Zögerlichkeit, Ambivalenz, Scham ist. Ein Heraus-Treten, das nicht wohlüberlegt sein muss, sondern gelegentlich auf der Imitation von Vertrautem beruht.

Wird im „ekstatischen“ Moment tatsächlich die Hülle der Kultur heruntergerissen und die „gefährliche“ Welt der „Triebe“ befreit? Ist Ekstase anti-sozial oder eher gemeinschaftsbildend? Je nach dem. Es gibt wohl beides. Und es ist – das zeigt der kulturanthropologische Blick - eine *Kultur* der Transgression, der Ek-Stasis, des Rituals möglich, die aus der anti-sozialen Vereinzelung herausführt. Klar.

Das Rituelle war immer wieder Thema, auch der Systemtheorie. Dabei wird wenig nach Gründern, Stiftern, Trägern von Ritualen gefragt. Oft wird hier allerdings das Ritual dem Gott der „Selbstorganisation“ geopfert.

Manchmal scheint es, als ob alle Welt nach Ritualen fragt, zumindest in der Therapie-Szene, nicht nur der systemischen (vielleicht ein Heidelberger Blick?). Man beklagt deren Fehlen (in der Familie und Schule), deren Auflösung (im religiösen Leben), sucht sich Inspiration auf Workshops und in Ritual-Tourismus. Aber wer und wie macht Rituale?


###Schule machen###

Ich werde morgen über Rituale und Schule schreiben, bin selber am Dienstagnachmittag in einem süddeutschen Gymnasium, um dort ein Film-Projekt zu „Drogen- und Rauscherfahrungen“ von Schülern zu supervidieren. Wer ist eigentlich dafür verantwortlich, dass und wie sich Schulen zeigen, sich performen, ihre Identität symbolisieren? Der Rektor, die Lehrer, die Eltern, die Schüler, der Hausmeister?