Ösen und Schlaufen

Die motorischen und intellektuellen Fähigkeiten der lieben Kleinen im Kindergarten sollen durch ein neues Projekt der Hochschule Niederrhein gefördert werden, das diese Woche Sabine Etzold in der ZEIT (Nr. 33 S.25) kurz vorstellt. Kinder lernen heute nicht mehr auf natürliche Weise Einfädeln und das Binden von Schlaufen, weil der Klettverschluss diese alten Fähigkeiten quasi wegrationalisierte. Dabei handelt es sich bei diesen manuellen Fertigkeiten um höchst komplizierte Steuerungsleistungen des Gehirns, die früher jedes Kind wie selbstverständlich erworben hat. Erinnern Sie sich vielleicht noch an die Freude, als Sie seinerzeit erstmals selbst die Schuhe binden konnten? Auch das Zuknöpfen entfällt zunehmend dank Reiß- und Klettverschluss. Von „Durchpädagogisierung von Kindergärten“ spricht die Autorin. Das ist einerseits sicher zutreffend, wie sollen Kinder andererseits angesichts der zunehmenden Medienkultur die Vielfalt des Könnens erfahren und vor allem in ihrem Gehirn entwickeln, wenn sie zunehmend nur noch zum Zuschauen und nicht mehr zum Selbermachen Gelegenheit haben? *„Dem Wissen ist es egal, wie du es erlangst“*, erklärte der berühmte Rumi, und das ist immerhin schon etwa 750 her. Ein sehr verdienstvolles Projekt also, um die Entwicklung der neuen Generation in einer möglichst großen Bandbreite zu ermöglichen.


Dabei haben wir als Kinder nicht gedacht, bei dieser Gelegenheit von Lernen zu sprechen. Was haben wir nicht alles gelernt ohne zu wissen, dass wir lernen. Auch andere früher selbstverständliche Fertigkeiten, etwa einen Kreisel mit einer selbst gebauten kleinen Peitsche anzutreiben oder allerlei Knoten zu knüpfen, was heute allenfalls noch lernt, wer sich den Pfadfindern anschließt. Dabei haben wohl fein- wie großmotorische Bewegungen sehr viel mehr mit der Entwicklung des Intellekts zu tun, als man sich bis vor kurzer Zeit noch gedacht hatte. Heute gilt ja als sicher, dass unser Gehirn bei all diesen Tätigkeiten komplizierte Rechenoperationen ausführt, etwa das Gleichgewichtsorgan bei der Justierung des Körpers in der Senkrechten oder Waagerechten. Nur wenige Menschen wissen überhaupt, was Vektorrechnen ist, ihr Gehirn aber beherrscht es ungefragt und zwar von Klein auf. Es berechnet auch die Breite eines Grabens und hilft und rechnend einzuschätzen, ob wir es schaffen hinüber zu springen oder nicht. Oder die Flugbahn eines Balles, den wir fangen wollen. Wir sind ja überhaupt so blöde anzunehmen, wir wüssten alles, was unter unserer Schädeldecke passiert, dabei können wir noch nicht einmal erfassen, was dem Blick durch ein Schlüsselloch vergleichbar wäre. Wir rechnen und wir wissen nicht, dass wir rechnen. Das, was wir in Schule und Beruf dazu lernen, sind bei den meisten Menschen nur sehr bescheidene intellektuelle Leistungen. Es ist wohl so, wie Richard Sockman schon vor dreißig Jahren festgestellt hat: *„Je größer die Insel des Wissens, desto länger ist die Küste der Wunder.“*


Kurz und gut: Es ist außerordentlich wichtig, dass solche Projekte eingerichtet und vorangebracht werden. Ich denke aber, wir können uns auch ein wenig darauf verlassen, dass neue Möglichkeiten wie Computer, moderne Verkehrssysteme oder Spiele wie Sudokus das menschliche Gehirn in seiner Entwicklung als System in ungeahnter Weise und in schwer voraussehbaren Richtungen voranbringen. Mein Vertrauen in die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen, vor allem der rational geplanten, ist ehrlich gesagt begrenzt, mein Vertrauen in die Weisheit der menschlichen Gehirne als Ganzes ist allen aktuellen Erfahrungen mit Gewalt, Krieg, Ölpipelines in Alaska und Hang zum Terror zum Trotz noch immer ziemlich groß. Dennoch hat jeder von uns Heutigen die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, alles dafür zu tun, dass seine eigenen Fähigkeiten optimiert werden. Wie sagte der große Prophet? *„Vertraue auf Gott, aber binde zuerst dein Kamel an.“* Soweit zur Motivation. Morgen um 8.30 Uhr will ich in SWR2 hören, was Gerhard Roth dazu zu sagen weiß.


Wer heute vielleicht erwartet hatte, hier etwas über die neuen Möglichkeiten des *Lernens II* zu erfahren, den werde ich vielleicht etwas enttäuschen. Aber allzu viele können es nicht gewesen sein, die hier auf das Hunderterlisten-System oder die unendlichen Möglichkeiten der LOCI-Technik gewartet haben. Sie hätten sich sonst irgendwie zu erkennen gegeben. Also bleiben ein paar Perlen im Kopf, obgleich ich weiß: *"Gebe ich dir meinen Euro und du gibst mir deinen, dann hat jeder von uns einen Euro. Gebe ich dir meine Idee und du gibst mir deine, so haben sich unsere beiden Ideen verdoppelt."* Ich wünsche Ihnen viele gute Ideen und behalten sie diese nicht einfach für sich.