Nichtwissen

Liebe Leserin, lieber Leser:


Ich gestehe! In den letzten Tagen rauschte meine Weblog-Woche auf mich zu und ich habe mich nicht allzu kundig gemacht, was meine Vor-Schreiber für Spuren hinterlassen haben. Somit beginne ich meinen ersten Beitrag nichtwissend. Daran wird sich auch in den nächsten Tagen nicht viel ändern, habe ich mich doch entschlossen, meinen Geist lieber einigermaßen frei und offen zu halten und nicht darauf zu schielen, was hier sonst so geschrieben, gedacht und kommentiert wird. Kurzum: Ich mache mein Nichtwissen zu meiner Ressource und zu meinen Konzept.


Bevor ich anfing zu schreiben habe ich in einer kurzen Pause zwei Brote gegessen und dabei einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom Samstag überflogen. Ein paar Zeilen möchte ich hier wiedergeben: „Heutige Ärzte können nicht alle Diagnosemethoden beherrschen und zugleich alle Lebensumstände des Patienten kennen. Je mehr Wissen und Technik zur Verfügung steht, desto mehr muss Kompetenz geteilt werden.“ (Bartens, W. (2006): Der deutsche Patient. SZ Nr. 53, S. 22) Das klingt plausibel. Aber auch problematisch. Nach meinem Dafürhalten verweist dieses Beispiel aus unserem Gesundheitswesen auf einen enormen Zuwachs an Nichtwissen in unserer Wissensgesellschaft. Wenn man seinen Blick für dieses Thema weitet, kommt man von Hölzchen auf Stöckchen:


„Wie viel hierzulande noch zu tun bleibt, bewies Wirtschaftsminister Michael Glos am vergangenen Freitag bei der Eröffnung des ‚Forums Digitale Medien’. Er wisse zwar nicht, was eine Set-Top-Box sei, bekannte der CSU-Mann freimütig. Aber es müsse ja wohl so etwas geben – ‚sonst wäre es mir nicht in mein Redemanuskript geschrieben worden.’“ (Kerbusk, K.-P. et al. (2006) : Alles wächst zusammen. Spiegel Nr. 7, S. 88) Es rührt mich, dass unser Wirtschaftsminister immerhin ehrlicher ist, als viele seiner Kollegen, die gerne so tun, als wüssten sie worüber sie reden, obwohl dem offensichtlich in vielen Fällen nicht so ist. Andererseits kommen mir doch einige Bedenken ob dieser Haltung. Wie wäre es, nur über das zu reden, was man selber noch versteht und weiß, anstatt es einfach verständnislos aus einem Manuskript abzulesen?


Ganz offensichtlich sind wirkliche Experten nicht gefragt im Politikbetrieb. Ein gutes Beispiel bietet Herr Prof. Dr. Karl Lauterbach, der sich als Gesundheitsökonom schon reichlich Feinde gemacht hat. Vielleicht weil seine MDB-KollegInnen in Anbetracht seines Wissens erblassen und in einem lichten Moment ihr eigenes Nichtwissen mal klar auf dem Schirm haben. Schließlich geben die meisten dies sicherlich nicht freiwillig zu, wie Herr Glos oder Frau MDB Sabine Bätzing: „’Das Eingeständnis, nicht alles wissen zu können, kommt ganz schnell’, hatte sie zu Beginn der Woche gesagt. Wenn sie alle Gesetze lesen würde, über die sie abstimmen muss, würde ihre eigentliche Arbeit in den Ausschüssen unerledigt bleiben. Jeder hier müsse auf das Urteil der Kollegen vertrauen, auch wenn es manchmal schmerze. ‚Oh, heute stimmen wir wieder über einen Bundeswehreinsatz ab? Über welchen eigentlich?’ An solchen Tagen sollte man keinem Fernsehteam begegnen.“ (Sussebach, H. (2005): Geschichte machen die anderen. Die Zeit 28, S. 51) Hm. Vielleicht sollte jemand mal untersuchen, wie viele der abstimmenden MDB eigentlich präzise wissen, worüber jeweils gerade abgestimmt wird. Abgründe tun sich auf.


Aber zurück zu Herrn Lauterbach. Sein Traum einer Expertokratie scheint indes auch nicht richtig durchdacht. Diese philosophiegeschichtlich nicht gerade neue Idee hat schließlich in einem Punkt dieselben Lücken. Auch Experten sind nicht frei von Machtgelüsten, Korruption, Bequemlichkeit und Feigheit, mithin frei von allen irrationalen Affekten (immerhin hat Herr Lauterbach jüngst in einem Fernsehgespräch bei Phönix zugegeben, dass auch er einen Machtanspruch habe). Ansonsten müsste es ja im deutschen und internationalen Wissenschaftsbetrieb astrein und vollkommen rational zugehen, aber das wird wohl (hoffentlich) niemand ernsthaft behaupten wollen. Nicht nur aufmerksamen LeserInnen von vielen guten Carl-Auer-Veröffentlichungen dürfte klar sein, dass Kommunikation und Beziehungsgestaltung nicht auf eine lupenreine Sachebene zu reduzieren ist. Also bringt uns auch die Expertenhaltung von Herrn Lauterbach nicht zu einer weiseren Politik und Gesellschaftsgestaltung.


Was machen wir nun mit all diesem geballten Nichtwissen in unserer Politik? Sollen wir es homöopathisch behandeln, indem wir es einfach ignorieren? Können wir aus anderen sozialen Bereichen lernen? Da müsste doch das eine oder andere möglich sein. Was meinen Sie dazu?