Neonazis und andere Formen von Rassismus

"Die mutmasslichen Nazi-Schläger: Im Verhör rufen sie nach ihren Mamas!" - So lautet die Schlagzeile der Online-Version der heutigen Bild-Zeitung. Sie ist ein Ausdruck der riesigen Empörung und Besorgtheit, die nach dem gewalttätigen Übergriff in Potsdam eingesetzte, bei dem ein äthiopischer Familienvater durch einige Neonazis ins Koma geprügelt wurde.


Bevor ich mit meinen Ausführungen fortfahre eine - quasi eidesstattliche - Erklärung: Auch ich bin entsetzt über diesen Gewaltakt; auch ich sorge mich über die zunehmenden Manifestationen von Neonazis, und auch ich bin der Meinung, die Täter sollten mit allen Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, verfolgt und bestraft werden.


Was mich aber ebenso stark besorgt, dass ist der alltägliche Rassismus, der immer unverhohlener geäussert wird. Ich verfolgte gestern abend im Schweizer Fernsehen eine Diskussionssendung über Raser. Kaum waren 5 Minuten vorbei, waren die Meinungen gemacht, dass es sich beim Raser-Problem in erster Linie um ein Problem von jungen Menschen handelt, die aus den Balkanländern stammen. Und es dauerte über eine halbe Stunde, bis ein Votum eines jungen Schweizers aus dem Publikum die Dinge in einem andern Licht erscheinen liess. Der junge Mann hatte mit stark überhöhter Geschwindigkeit einen Unfall verschuldet und dabei irreparable körperliche Schädigungen erlitten. Er stellte klar, dass es in seinem Bekanntenkreis ebenso viele schweizerische Jugendliche gebe, die sich von der Kraft ps-starker Karrossen fasizinieren liessen und den Geschwindigkeitsrausch auslebten. Erstaunlich war, wie viele Voten dann auf einmal kamen, dass man aus dem Raser-Problem nicht einfach ein Ausländer-Problem machen könne. Man hatte den Eindruck, als hätten sich die Diskutanden und Diskutandinnen auf dem Podium und im Publikum geradezu gescheut, dem rassistisch geprägten Verlauf der Sendung ein Gegengewicht zu setzen.


Doch das ist eigentlich immer noch nicht der Alltagsrassismus, um den es mir geht. Es ist das abschätzige Kopfschütteln, mit dem auf eine türkische Mutter mit Kopftuch und Kinderwagen reagiert wird; es ist das beängstigend respektlosen Verhalten gegenüber Jugendlichen mit ausländischer Herkunft, dieses Anschnauzen bei geringsten Anlässen, dieses Geschimpfe über die schlechte Erziehung, und es ist die zunehmende Tendenz gerade auch sich als 'links' bezeichnender Menschen, Ausländer und Ausländerinnen für jegliche Probleme verantwortlich zu machen, die uns beschäftigen - es sind all diese bisweilen kaum wahrnehmbaren und doch immer häufiger zu Tage tretenden Äusserungen, die mir Sorge machen. Als junger Mensch war ich immer der Meinung gewesen, rassistische Eskalationen wie im zweiten Weltkrieg wären heute nicht mehr möglich, schon gar nicht in der Schweiz. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Die wirtschaftliche schwierige Lage setzt bei immer grösseren Teilen der Bevölkerung rassistische Energien frei, die nichts Gutes erahnen lassen, und im gleichen Mass scheint die Bereitschaft zu sinken, diesen Tendenzen aktiv Einhalt zu gebieten. Kaum je nimmt im öffentlichen Raum jemand Stellung für Ausländer und Ausländerinnen, wenn diese grundlos beschimpft, mit abschätzigen Blicken bedacht oder - was ich im letzten halben Jahr zweimal erlebt habe - sogar angespuckt werden. Der Rassismus wird zunehmend salonfähig.


Oder nehmen wir den Karikaturen-Streit: Auch ich bin für Pressefreiheit. Ich bin sogar dafür, dass die Publikation von Inhalten, welche religiöse oder Schamgefühle von ganzen Bevölkerungsgruppen verletzen, nicht verboten werden sollten, denn wenn man den Besen der Zensur mal in den Raum gelassen hat, dann wird er schnell zu einem Zauberlehrling, dem kaum noch Einhalt zu gebieten ist. Was mich entsetzt, ist die öffentliche Reaktion auf die Empörung, mit der vielen Menschen muslimischen Glaubens auf die Karikaturen reagiert haben. Es ist doch klar, dass sich die Leute wehren, wenn ihre Werte mit Füssen getreten werden. Ich würde mich auch wehren, wenn mir das Gleiche widerführe. Es ist für mich erschreckend, dass nach diesen Reaktionen eine Diskussion möglich wurde, die nichts anderes zum Ziel hatte, als die Rückständigkeit der islamischen Glaubensrichtungen im Allgemeinen und bestimmter islamischer Staaten im Besonderen anzuprangern.


Wohin diese abschätzige Haltung führt, die in unserem Kulturkreis dem Islam entgegengebracht wird, haben wir in den letzten Jahren deutlich gesehen. Es sind nicht nur die Kriege, die (aus was für Gründen auch immer) gegen Länder wie Afghanistan, den Irak oder vielleicht auch bald den Iran geführt werden. Da geht es weniger um rassistische Motive als um knallharte ökonomische Interessen. Natürlich tragen diese militärischen und politischen Interventionen nachhaltig zur Entstehung des Terrorismus bei, den sie zu bekämpfen oder (mit der Metapher des Präventionskrieges) zu verhindern vorgibt. Natürlich nährt der Westen die Verzweiflung extremistischer Täter und Täterinnen, wenn er Länder wie Israel und Palästina für die vergleichbare gewaltsame Übergriffe so unterschiedlich behandelt. Was die kontraproduktive Wirkung dieser Massnahmen aber noch verstärkt, ist die abschätzige Semantik, mit der dem Islam auf allen Ebenen entgegnet wird. Die Länder werden nicht nur ausgebeutet, sondern gleichzeitig noch in einem Mass verunglimpft, dass jeder Beschreibung spottet. Kein Wunder, dass die Unterstützung für gewaltsame Aktivitäten in der islamischen Welt immer grösser wird; kein Wunder, dass es immer weniger gelingt, die terroristischen Extremisten vom überragend grossen Teil der friedvollen, demokratisch gesinnten islamischen Bevölkerung zu trennen; keine Wunder gewinnen die erzkonservativen religiösen Führer immer an Gewicht. Ausbeuten und dann erst noch Auslachen, das ist eine explosive Mischung.


Mir scheint, dass das Ausmass der öffentlichenEmpörung gegenüber rassistischen Gewaltakten wie in Potsdam oder gegenüber Nazi-Parolen skandierenden Glatzköpfen mit Springer-Stiefeln viel mit Sublimierung zu tun hat, mit dem Umlenken des omnipräsenten Alltagsrassismus auf die Verurteilung (um nicht zu sagen: Verdammung) von Tätern, die ihre Stärke exakt aus dem Nährboden dieses Alltagsrassismus gewinnen.