Nachdenken über „Utopie“ ausgehend vom „Manifest gegen die Arbeit“

Lieber Herr Simon, ich will Ihre kontemplative Themenwahl nicht unterbrechen, noch stören, doch würde ich gern parallel weiter am hier vielleicht schon abgehackten Thema bleiben und noch ein paar Gedanken von mir dazu dranhängen.


Im MGDA ist ja eine, was ihre implizite Gewaltsamkeit betrifft, viel versprechende „ markierte Utopie“ enthalten, nämlich in den letzten drei Kapiteln (16, 17, 18). Die Verwirklichung dieser „Utopie“ muss natürlich zuerst gerechtfertigt werden und das geschieht wie schon gesagt mit einem Sklavenzynismus und Objektivitätsterror ohnegleichen.


Das „Abschalten“ und „Ausschalten“ der staatlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen und der Einsatz von „Räten“ – eine nett verpackte Drohung gewissermaßen – gibt den Vorausblick auf Gewalt, Mord, chaotische Verhältnisse.

Deren durchaus immer bestehende Möglichkeit kann ich genauso gut in aller Ruhe abwarten, ohne gerade dieser „Utopie“ zuzustimmen. Warum ist sie dennoch verführerisch?


Wie funktioniert die sehr ambivalent verspürte „Überzeugungskraft“ dieses besagten Sklavenzynismus und des Objektivitätsterrors?


Luhmann vergleicht es mit dem „Copieren“, der Beobachtungstechnik des Teufels. Nämlich dem Ziehen einer Grenze *in* einer Einheit *gegen* diese Einheit. Unverzüglich tritt die logische Folgewirkung ein: das unreflektierte Sich-für-besser-halten.


Entsprechend wird mit Schuldzuweisungen gearbeitet, das Schicksal der Gesellschaft – das sind die anderen, die allesamt nachweislich schuldhaft operieren.


Die Über-Zeuger argumentieren als „Betroffene“ für „Betroffene“. Die Protestkommunikation erfolgt zwar *in* der Gesellschaft, sonst wäre sie keine Kommunikation, aber so, *als ob es von außen wäre*. Sie hält sich selbst selbstredend für die (gute) Gesellschaft. Luhmann hat seine Systemtypologie (Gesellschaft, Interaktion, Organisation) um den Typus des "Protests" erweitert, als soziale Bewegungen, die sich außerhalb des "Systems", die sich außerhalb von Gesellschaft wähnen und die, statt zuerst zu denken, was sozusagen der Langeweile geschuldet wäre, zuerst handeln wollen.


Mit den diversen Formen des Protests fällt, so Luhmann, eine deutliche Entscheidung gegen ein *kognitives* und für ein *reaktives* Vorgehen.


Der ultimative Protest des MGDA begnügt sich mit einer schematisierten Darstellung des „Problems“ (Freund/Feind), mit einem eklatanten Skript (MGDA) verbunden mit dessen Aufmachung als unerhörtem „Skandal“.


"Krisis" verzettelt sich so nicht erst lange auf den Umwegen einer sukzessiven Zukunftsplanung, um Problemen der Gewalt auszuweichen - in eine Zukunft ohne Ende - , sondern man verspricht sich, durch je reaktives Vorgehen, schneller erreichbare Wirkungen: Die angeblich ideale und als ideale erst perfekte Welt.


Mitkommuniziert wird, dass ALLE daran interessiert sein müssen und dass ALLE Mitbetroffene sind. Die Unterstützung für die Abkürzung des Weges wird nun nachgerade als selbstverständlich eingefordert, wer dagegen ist, wird maßgeblich beschimpft und sozial stigmatisiert. Daher erlaubt"Krisis" sich auch das Pathos, das der Geschwindigkeit des Schablonendenkens ja eigentlich fremd ist. Es dient der Beschleunigung des Weges, der sonst ein langer, möglicherweise ganz umsichtiger und deswegen ganz undurchsichtiger Weg wäre.


Analyse und Schlussfolgerungen von Kapitel 1 bis 15 - warum empfand ich persönlich sie als „messerscharf“ und gucke nun lieber nicht mehr hinein?


Vermutlich kann ich mich –als junge Erwachsene lieder- und kadergeschult für eine „bessere Welt“ – solchen „schlüssigen“ Zerlegungen emotional einfach nur schwer entziehen. Andererseits vermeine ich darin die Antithese zur herrschenden These zu erkennen. Ich habe ein Faible für brillante Untersuchungen. Aber ich habe längst den "dritten" Weg gewählt, das "Ich-selbst-werden".


Meine persönlichen Schlussfolgerungen habe ich vor vielen, vielen Jahren gezogen. Ich habe mir sukzessive ein geistig effizienteres, subjektiv zuträglicheres und vor allem gewaltfreies Instrumentarium zum Untersuchen und zum Aushalten der so erzeugten Welt zugelegt, langsamer, als Marx dies nahe legte. Marx, damit beschäftigt, Hegel brillant vom Kopf auf die Beine zu stellen, hat ideologisch nicht ausgehalten, was begrifflich auszuhalten ist. Marx hat, um ein Bonmot Luhmanns aufzugreifen, das dieser in anderem Zusammenhang verwendete, „auf fremden Pferden moralisch voltigiert....“


Seitdem ich mich der Werkzeuge der Hegelschen Dialektik, der Differenztheorie, der Systemtheorie und des Konstruktivismus bediene, sie dabei theoretisch und praktisch weiterentwickle, nehme ich sowohl meine Nicht-Beteiligung als auch meine Beteiligung am „Zustand“ der Welt wahr, fühle mich verantwortlich für meine Denken über die Welt, die so "ist", wie sie ist, da wir sie, nach Maßgabe der Intensität und Fokussierung unseres je individuelle Denkens und gemeinsamer Übereinkünfte, zu dem machen, was sie im gegenwärtigen Augenblick „ist“, das heißt als was sie uns erscheint.


Die Welt ist so beschaffen, wie ich sie in jedem Augenblick „sehe.“ Ich kann sie auch anders sehen.


Meine Wahr-Nehmung ist ein Konzept: Etwas, sei es ein Glas, „halbvoll“ oder „halbleer“ zu sehen, oder die Welt als "perfekt", wie sie gerade ist zu sehen oder als " unperfekt" und verbesserungswürdig zu sehen, ist meine Macht: Ich mache das.


Ich mache das jedoch nicht allein. Beobachtung ist das Disposiitv mindestens zweier Beobachter.


Durch meine jugendliche (selbst gemachte und erlaubte und durchaus auch weitergegebene) marxistisch-maoistische Gehirnwäsche finden im ersten Moment „messerscharfe“ Analysen und „revolutionäre“ Konzepte ungehinderten Zugang. Doch im selben Augenblick blicke ich sozusagen gen Himmel und verdrehe die Augen. Mir wird bewusst, dass dies ein gespeichertes Programm ist und ich, aus Einsicht in dieses Programm, bewusst ein **anderes** Leit-Programm gewählt habe, um mein Leben zu gestalten.


Mir wurde bewusst, dass mein Weg mein ganzes Leben dauert. Ich habe letztendlich das Programm gewählt, das mich darin unterstützt, mein Leben gut auszuhalten. Ich habe also bewusst und qua persönlicher Veranlagung sehr früh den äußerst „privilegierten“ Weg der Musse gewählt. Ich erfülle so mein Schicksal und ich lebe meinen Traum. Ich begeistere mich an meinen Denkmöglichkeiten. Ich fliege nicht. Außer im Traum, höchstens 5 m über dem Erdboden. Ich habe es in meinem Leben mit nichts je eilig gehabt. Ich habe meine Verantwortungen wahr genommen, nehme sie wahr. Ich lebe meine persönliche Utopie und komme dabei mit wenig Geld aus, wenn ich es brauche kommt es, und bin noch nie jemandem sein vieles Geld oder um das, was er sich dafür leisten will, neidig gewesen. Ich sehe meinen Reichtum in Mir, im Wir, im Wollen, Wetter, Wasser, Wald und Welt um bei meinen großen W zu bleiben..


Ein Krankenhaus stelle ich mir als Tempel der Genesung vor. Aber auch dann will ich mich dort nicht aufhalten, da ich vorhabe und beschlossen habe, gesund zu sein und mich vorauseilend immer schon selbst geheilt zu haben.


Wenn ich nun von der „Utopiefrage“ von Herrn Todesco lese: „Wie hätten WIR es denn gern?“ rieselt es mir irgendwie über den Rücken. Vielleicht will ich es anders als die anderen? Wie sollen wir uns je einigen, wo wir doch jeder ganz anders sind und die Welt ganz anders lesen???


Auf dieses „WIR“, dem ich mich dennoch sehr verbunden fühle, und das Aushandeln dessen, wie wir es gern hätten, werde/würde ich später vielleicht noch zurückkommen.