Mythen achten, Mythen überwinden

Ich finde es beruhigend, Mythen* gelegentlich auch selbst zu erleben: Es bestätigt und „verlängert“ die Geltung, man kann sich darauf verlassen und weiter darüber reden ;-) Besonders, wenn es sich um Mythen handelt, die bereits öffentlich dekonstruiert werden und neue Konkurrenz bekommen. Zum Beispiel „Echte Kerle“ versus „Neue Männer“ derzeit am neuen James Bond Darsteller durchdekliniert. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger.


Sie kennen natürlich den Mythos „Echter-Kerl“, der alles, was nach Weichei aussehen könnte, kategorial ablehnt und verspottet.


Vielleicht kennen Sie auch den Sub-Typ „Echter-Vater-Kerl“, der halb gezwungen im Geburtsvorbereitungskurs seiner Frau dabei ist und nicht fassen kann, was er da zusammen mit all den anderen werdenden Vätern erdulden muss: Bälle. Flauschige, weiche Bälle. Die sie sich untereinander zuwerfen müssen. Um sich kennen zu lernen und die Namen besser zu merken.


Genau diese Geschichte vom Ball-Erlebnis im Geburtsvorbereitungskurs habe ich zweimal unabhängig voneinander in den letzten 3 Monaten erzählt bekommen. Es waren zwei ganz verschiedene Kunden. Beide haben die Geschichte in sehr unterschiedlichen Kontexten erzählt. Doch beide hatten dabei unausgesprochen die Erwartung, dass meine Kollegen und ich natürlich dieselbe Bewertung des Erlebnisses „Bälle werfen im Geburtsvorbereitungskurs“ teilen: „Nein, ist ja peinlich!“


Der eine Kunde, der uns für einen Workshop beauftragt hatte, erzählte uns sein Geburtsvorbereitung-Trauma als Hintergrund für seine Warnung an uns Moderatoren, *nur ja keine Ballspiele* oder so was mit den Teilnehmern zu machen, dann wären wir unten durch und als unprofessionell oder sogar esoterisch abgestempelt. Dankbar für diese offene Warnung begannen wir den Workshop und hielten unsere Bälle zunächst flach.


Natürlich haben wir für Workshops Bälle dabei und auch so manch Anderes, das mit Bewegung, Spaß, Entspannung usw. zu tun hat. Aber wir wissen auch, dass wir uns immer an die Sprache und Kultur der Teilnehmer und Aufraggeber ankoppeln müssen. Die Vorbehalte gegenüber irgendwelchen „Spielchen“ sind in rational und sachlich geprägten Unternehmenskulturen weit verbreitet, und da zwingen wir niemandem Bälle auf, der nicht will.


Umso schöner war es dann, als es im besagten Workshop doch anders kam.


Die Stimmung unter den Teilnehmern wurde zunehmend locker, die Arbeit mit uns klappte gut und nach dem Mittagessen kam wie so oft Trägheit auf.

Das ist die Stelle, wo wir dann häufiger die Bälle auspacken.

Wir hatten den Eindruck, dass die Gruppe für das Spiel, das wir mitgebracht hatten, aufgeschlossen sein würden und wagten es: Die Teilnehmer stiegen hundertprozentig darauf ein und hatten einen riesigen Spaß dabei. Die Bälle symbolisierten Kunden, die sich die Kollegen zuspielen mussten und dabei bestimmte Abläufe einzuhalten hatten. Sie wollten gar nicht mehr aufhören – allen voran unser Auftraggeber - und so spielten sie dann nach dem Ende unseres Spiels noch freestyle weiter. Danach waren alle wach, durchgepustet und arbeiteten konzentriert weiter.


Wie eingangs gesagt, gelegentlich einen Mythos selbst zu erleben ist schon schön.

Noch schöner ist, gelegentlich zu erleben, wie sich jemand auf eine neue Erfahrung einlassen kann, die jenseits der Einschränkungen des Mythos liegt. Ein Mythos ist zwar ein Stück Welterklärung, die Orientierung und Identität erzeugt, ein Mythos ist aber auch nur *eine* Wahrheit, die *viele andere* ausschließt.


*Unter Mythen verstehe ich hier typische soziale Konstruktionen in (Sub-) Kulturen oder kommunalen Systemen mit dem zugehörigen Set passender Skripte.


P.S.: Heute hat mich niemand angerempelt.