Müssen Beziehungen im Unterricht Vorrang haben?

Der Konstruktivismus betont insbesondere in seinen kommunikationstheoretischen Varianten, die breiten Einfluss auf alle Konstruktivismen haben, die Beziehungsseite neben der Inhaltsseite in allen Lebensformen und auch für die Wissenschaft. Diese Einsicht ist auch Forschern, die sich mit der Genese des Wissens aus Verständigungs- und Machtverhältnissen beschäftigt haben, wie z.B. Foucault oder Bourdieu, nicht fremd. Dagegen steht in den Wissenschaften immer wieder eine Betonung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, aber auch eine empirische Forschung, die scheinbar realistisch die Wirklichkeit abbildet. Eine solche Sicht verführt auch Lehrende, die im Unterricht ganz auf die Sach- und Wahrheitsseite setzen wollen. Sie sehen im Vorrang der Beziehungen eine Bedrohung. Und im Konstruktivismus vermuten sie so etwas wie den Untergang des Abendlandes.


Aber wollen Konstruktivisten denn tatsächlich Inhalte abschaffen? Warum sollten sie das tun? Und welcher Konstruktivist hätte dies je behauptet?


Nein, so möchte ich betonen, Konstruktivisten wollen mehr: Inhalte und Beziehungen so gestalten, dass die Beziehungen im Lernen genutzt werden und die Inhalte so besser, tiefer, beteiligter erarbeitet werden können. Dabei setzen sie an der Lernumgebung oder dem Lernkontext an. Es gibt keine Inhalte ohne Kontexte. Sie stehen in einer Kultur immer in Lebensformen und dabei in Beziehungen. Sie spielen bei der gegenseitigen Verständigung der Beobachter, der normativen Vorverständigung der Teilnehmer, bei erwarteten und erwünschten Handlungsbezügen der Akteure eine entscheidende Rolle. Menschen verhalten sich nicht nur zu Inhalten, sondern leben und verwirklichen Inhalte immer auch über ihre Beziehungen, die z.B. definieren, was in einer Kultur Sinn und Bedeutsamkeit hat. Der Vorrang der Beziehungsseite bedeutet deshalb im Unterricht keinesfalls, dass die Inhaltsseite in den Lebensformen oder der Wissenschaft herabgesetzt oder geschmälert werden soll. Es handelt sich um eine grundsätzlich notwendige Relativierung, die an die Voraussetzung von Beobachtern geknüpft ist: Wann immer Inhalte oder inhaltliche Aussagen im menschlichen Denken und Handeln getroffen werden, können und sollten sich Beobachter fragen, was dies für die menschliche Beziehungsseite bedeutet. Meist ist es günstiger, dies noch grundlegender zu erfragen: Wie wirkt die menschliche Beziehungsseite steuernd, beeinflussend, orientierend und motivierend auf die Inhaltsseite ein? Und für den einzelnen Lerner heißt es: Warum soll ich dies lernen? Gibt mir die Beziehung zu meinem Lehrer einen Sinn? Kann ich vertrauen?


Ja, so möchte ich sagen, du könntest vertrauen, wenn sich der Lehrende der Verantwortung seiner Beziehung zu dir bewusst ist.


Nachdem in vielen Ländern der Welt für den Unterricht diese Einsicht in eine bewusst gestaltete und verantwortete Beziehung geteilt wird, frage ich mich, warum dies in Deutschland so schwer zu vermitteln ist. Haben Sie eine Antwort?