Misstrauen

Der gestrige 1. Juli 2005 wurde zu einem bedeutsamen Tag. „Schröder bittet heute um Misstrauen“ (HAZ 1.7.05) – und seiner Bitte wurde entsprochen. Wenn jetzt nicht das Kündigungsschutzverfahren greift, dann dürfen wir am 18.9. wählen.

Eine interessante Kommunikationsfigur wurde dazu erfunden: Ich beschimpfe andere, spreche Ihnen mein Misstrauen aus und bitte sie dann, mir das Misstrauen auszusprechen. Wenn sie mir dann einen auswischen und ihr eigenes Misstrauen unterstreichen wollen, sprechen sie mir das Vertrauen aus, wenn sie mich weiter unterstützen wollen, das Misstrauen.


Überträgt man diese Kommunikationsfigur probeweise auf andere Kontexte, Paarbeziehungen, Lehrer/ Schüler, Arbeitgeber/ Arbeitnehmer etc. wird einem einerseits etwas wirr im Kopf, andererseits erzeugt die Irritation vielleicht einen höheren Ordnungszustand. Man sieht dann das Paar, das sich innig in den Armen liegt und lüstern flüstert: ich misstraue Dir aus tiefstem Herzen, Du Schlampe, Du Macho, schenk mir Dein Misstrauen, je t’ aime, moi non plus..... Alles wird möglich – wir haben die Niederungen von Vertrauen und Misstrauen transzendiert, sind in einer höheren, nie gekannten Ordnung emotionaler Bezugnahme angekommen, Virginia Wolfe winkt von unten.


Und weil wir gerade in den politischen Niederungen sind, noch einige andere Überlegungen dazu:

Misstrauen ist ja, wenn auch nicht in dieser kunstvollen Kommunikationsfigur, das Thema der Zeit. Die viel beschworene und durch diese Beschwörungen mit erzeugte Depression ist emotional eng mit Vertrauen, mit enttäuschtem Vertrauen verwoben:

Enttäuschungen des Vertrauens auf Besserung der wirtschaftlichen Situation, auf sinkende Sozialbeiträge, auf Verbesserung der Altersbezüge........ kurz: Enttäuschungen des Vertrauens auf ein wieder beginnendes Wachstum der Wirtschaft, Enttäuschungen darüber, dass die Formel offenbar nicht gilt, dass neues Wachstum die Probleme des Landes und des Einzelnen löst.


Das Thema gleicht den üblichen Dramen linear - deterministisch gedachter Zusammenhänge, die –gebetsmühlenartig wiederholt– effektive Tranceinduktionen sind.

Wenn die Wirtschaft nicht lahmen, sondern wachsen würde, dann wäre alles in Ordnung.

Damit sind zwar noch keine Kinder da, die unseren Staat später finanzieren könnten -einen anderen nicht-deutschen Zuwachs der Bevölkerungen mögen wir uns ja schon gar nicht vorstellen,

weil - wenn die Wirtschaft wieder anspringt (wen eigentlich?)......

Und die Rente bekommen wir natürlich auch wie immer möglichst ab Mitte 50 in gleicher Höhe,

weil - wenn die Wirtschaft.....


Diese kollektive Trance ist offenbar schwer zu durchbrechen, wahrscheinlich wäre dann nach üblem Erwachen der Katzenjammer groß: es wird kein Wachstum geben, das irgendeine der Fragen auch nur im Ansatz löst.

Wir bitten um das Misstrauen gegenüber Menschen, die diese Trance noch immer induzieren! Wir bitten um Respektlosigkeit im Sinne Cecchins gegenüber solchen, wie prinzipiell gegenüber allen Konzepten!

Was aber tun? Kaum in Ansätzen ist der Blick auf das frei geworden, was Formen des Lebens, des Zusammenlebens wären, die Alternativen zur lebenslang geregelter Berufstätigkeit mit anschließender Berentung aufzeigen. Wo in der Welt sind solche Modelle schon gut gelaufen, welche Modelle wurden in der deutschen Geschichte bereits erfolgreich gelebt? Welche Entwicklungen brauchen wir dazu – und macht die Suche nach Wegen vielleicht sogar Spaß?


In der Übermittlung der Vorschläge der Hartz- Kommission fehlt -neben all den Kerben und Glättungen, die sie im politischen Diskurs bis zu ihrer Umsetzung erlitten- eine wesentliche Komponente, von der Peter Hartz sich in Gesprächen überzeugt zeigt, dass sie als der treibende Motor der erfolgreichen Umsetzung unverzichtbar ist: die emotionale Dimension, die systematische Erzeugung einer kollektiven Betroffenheit angesichts millionenfacher Beschäftigungslosigkeit, die tiefe Überzeugung einer nationalen Aufgabe, die es sich anzupacken lohnt. Dies in Gang zu setzen versteht er als vordringlichen Job aller gesellschaftlichen Verantwortungsträger, vom Abteilungsleiter im Supermarkt über den Gemeindepfarrer bis zum Vorstandsvorsitzenden - die Erzeugung einer kollektiven Kraft, die gemeinsam die Überwindung einer als unerträglich erlebten Situation von Millionen Mitbürgern für einige Jahre zum priorisierten Programm erhebt, die Kreativität, das Engagement, das jeden Winkel erreicht, die Vorstandssitzung und die Currywurstbude.


Sozialromantik? Nein, eigentlich nur die Bilanz der Erfahrungen aus zahllosen Veränderungsprozessen von Einzelnen, Familien, Teams, Organisationen. Ohne Energie nix los; und der Einsatz von systemischem Wissens darüber, wie Menschen - statt sich in der Enttäuschung über frustrierte Erwartungen zu suhlen- zur Mobilisierung ihrer Energien zu kommen könnten. Energien haben immer etwas mit Sinn zu tun, damit, dass man überzeugt ist, dass sich der Einsatz der Energien lohnt. Die gegenwärtige Situation ist sicher eine unheilvolle Mischung aus vielen Dynamiken: dem Abschied von gewohnten Lebenssicherheiten, der Herausforderung ständiger Neuorientierung, dem Frust über die handwerklichen Desaster der politischen Verantwortungsträger, dem Verlust eines eng-warmen Nationalgefühls und dem Abschied von Lösung deutscher Probleme nach deutscher Art, dem Verlust einer Orientierung an traditionellen Werten und Normen, dem Verlust von gemeinsam geteilten Zielen.....


Zumindest macht sich in dem ganzen Szenario eine Sinnleere breit, die am ungeschminktesten von den Jüngeren vorgetragen wird: wozu Engagement, wozu Kinder, wozu Kreativität, wozu Zukunft..., wie - Betroffenheit, wie Wie?

Hat Peter Hartz sein Kalkül der emotionalen Dimension der nach ihm benannten Reform auf Sand gebaut? Vom Ergebnis scheinbar ja, aber die Idee behält ihren Charme: Kollektive, die nicht irgendeine Form gemeinsamer Idee, ein gemeinsamer Sinn bewegt hat - nämlich letztlich die Idee, zu überleben - haben ganz einfach höhere Chancen unterzugehen. Böse formuliert: Vielleicht hat ja die EU nicht die häufig formulierte Aufgabe, die Deutschen in ein europäisches Vertragssystem einzubinden, das ihnen zukünftig Ausfallschritte mit Millionen Toten erschwert. Sondern: sie ist das Auffangnetz für den kollektiven arischen Suizid, der als Reaktion und Sühne, als folge gebrochener Sinnbeschreibungen noch auszustehen scheint. Dann allerdings haben das französische und das niederländisch Volk und besonders Tony Blair uns soeben die Pläne furchtbar vermasselt.


Ob man diesen krausen Gedankengängen folgt oder nicht: man muss ja feststellen, dass es bislang keinem gelungen ist, einen Zündfunken zu setzen, der einen Unterschied machte, der eine Energetisierung des Systems erreichte: war denn die Situation bislang nicht eskaliert, nicht instabil genug? Brauchen wir eine noch höhere Aufheizung, Verunsicherung? Was ist dann mit dem Risiko, dass die Deutschen doch wieder auf ihre alten Muster zur Stabilisierung zurückgreifen (da zuckt doch schon der Arm) - und lassen wir sie dann nicht lieber in der selbstorganisierten Stabilität ihrer depressiven Antriebslosigkeit, damit sie nichts anrichten können? (Da fällt einem doch wieder der alte Degenhard ein mit seinem Lied „Sonntags in der kleinen Stadt“) Dann wäre diese Depression ein Schutz, weil alle spüren, dass eine neue, konstruktive Sinnorientierung noch außer Reichweite ist.


Am Ende wird es A.M. sein, das auf Lady Di gestylte Gesicht der Depression, historisch zufällig am richtigen Platz, um mit der Dynamik eines Attraktors zum energetischen Zentrum neuer Lebensmodelle zu werden. Welche Chancen gäbe es, auch andere Ordnungsprozesse von Sinn, Energie, Engagement in Gang zu setzen? Wo sind die berühmten „Druckpunkte“, an denen eine kleine Intervention Großes bewirkt?


Angesichts dieser Dimensionen greifen wir am Tag nach dem heute schon „historisch“ genannten 1. Juli in die Kiste unserer Schwarzplatten und fingern die „Proletenpassion“ der Schmetterlinge heraus (1977), entstanden damals im Umfeld ebenfalls „historisch“ genannten Phase, hoch aufgeladener gesellschaftspolitischer Umbrüche.


„Nichts kann uns dazu bringen,

halbacht am Fleck zu stehn

und niemand kann uns zwingen,

einen Fehler zweimal zu begehn.

...

Nichts bringt uns mehr zum Stehn,

die Strecke wird genommen,

wir wissen, wohin wir gehen,

weil wir wissen, woher wie kommen

Wir lernen im vorwärtsgehn,

wir lernen im Gehen.“