Massenpsychologie

Man muss nicht unbedingt Elias Canetti "Masse und Macht" lesen, um zu verstehen, wie Massenprozesse ablaufen. Wenn man eine kommunikationstheoretische Perspektive, die naturgemäß heute etwas elaborierter als zu Canettis Zeiten erfolgen kann, hinzuzieht, dann handelt es sich bei der Bildung von Massen um ein spezifisches Phänomen der Kopplung sozialer und psychischer Prozesse.

Wenn man davon ausgeht, dass eine der zentralen Funktionen von Kommunikation darin besteht, Akteure und Aktionen zu koordinieren, dann sind Massen dadurch charakterisiert, dass eine große Anzahl von Individuen (hier verstanden als autonome, innengesteuerte, strukturdeterminierte psychische Systeme ) zur selben Zeit entscheiden, mehr oder weniger dasselbe zu tun. Alle jubeln ihrer Fußballmannschaft zu, die ein Tor geschossen hat, verkaufen in Panik ihre Aktien, lynchen einen vermeintlichen Kinderschänder, rufen "Lügenpresse" oder "Nazis raus".

Das Besondere an dieser Koordinations- bzw. Kopplungsform ist, dass im Unterschied zu einer Organisation, wo ja auch Hunderte oder Tausende, manchmal auch Hunderttausende in ihrem Handeln koordiniert werden, nicht unterschiedliche Handlungen zu einem die Aktionen des Einzelnen transzendierenden Prozess geordnet sind, sondern sich alle gleich verhalten. Das macht den Unterschied aus, ob z.B. ein Stadion organisiert geräumt wird oder alle fluchtartig gleichzeitig zum selben Tor hasten und sich gegenseitig tot trampeln.

Wie kann man Massenphänomene (wie etwa die Wahl einer Partei, die noch kein Programm hat, durch 25% der Wähler erklären)?

Wenn wir das Verhalten des Einzelnen durch sein psychischen Prozesse erklären, dann kann man seine Einordnung in eine Organisation (=organisierter Prozess) dadurch erklären, dass er bestimmte Spielregeln akzeptiert und sich an sie hält (warum auch immer).

Das Verhalten in einer Masse muss m.E. anders erklärt werden. Es ist ja eigentlich extrem unwahrscheinlich, dass Hunderte oder Tausende, ja, Millionen zur selben Zeit dieselben psychischen Prozesse durchlaufen, um sich gleich zu verhalten. Wenn man etwa an die unzähligen Möglichkeiten denkt, Situationen zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Erklärbar wird solch eine Massenkoordination nur über die Nutzung der Affekte. Wenn man den Experten glauben kann, dann existieren nicht mehr als 8 bis 9 Grundgefühle. Wenn es gelingt, bei vielen Menschen eines dieser Gefühle zu wecken oder auszulösen (und Gefühle wirken, wie es so schön heißt "ansteckend", erzeugen "Resonanz"), dann kann man erreichen, dass Hunderttausende dasselbe tun. Die Auswahl aus 8 der 9 ist viel einfacher als die unter den Billionen von Argumenten, die sich handlungsleitend in einer Situation für unterschiedliche Optionen entwickeln lassen.

Der Psycholinguist Osgood hat untersucht, welche Bedeutungen in Worten impliziert sind, die Gefühle ausdrücken (in mehr als 20 Sprachen). Er fand drei Dimensionen der Unterscheidung: zwischen aktiv und passiv, zwischen stark und schwach, zwischen gut und böse.

Wer die Affekte vieler Menschen ansprechen will, muss also diese drei Dimensionen in den Blick nehmen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Massen folgen.

Um hier zum Ende zu kommen, und dies auf die Flüchlingsfrage anzuwenden (skizziert und verkürzt, aber das passt ja zum Thema):

Flüchtlinge sind gut oder böse,

Flüchtlinge sind stark oder schwach,

Flüchtlinge sind gut oder böse,

Wir sind gut oder böse,

wir sind stark oder schwach,

wir sind aktiv oder passiv.

Die Komplementärverhältnisse scheinen mir deutlich, so dass es keiner weiteren Erklärungen bedarf, um sehen zu können, wie der öffentliche Diskurs sich strukturiert, wie Parteiprogramme entworfen und politische Entscheidungen verkauft werden...

Noch ein Wort zu den Massenmedien. Denn während in einer Panik alle zur gleichen Zeit am selben Ort sind, so dass durch das analoge Erleben ihre Affekte gleichgeschaltet werden (können), ist dies durch die Nutzung der Massenmedien auch möglich, wenn sich nicht alle am selben Ort zur selben Zeit befinden. Was Menschen miteinander verbindet, ist die Fokussierung der Aufmerksamkeit. Dazu haben Hitler und die Nazis das Radion benutzt, später kam der Film dazu (z.B. Leni Riefenstahl), heute sind es Fernsehen und Internet.

Die m.E. politisch weitreichendste Frage lautet: Wem gelingt es am besten, den Fokus der Aufmerksamkeit zu bestimmen?