Liebes Tagebuch,

die letzten beiden Tage gehörte die Zeit, die ich seit Anfang der Woche für dich aus meinem Alltag abgezwackt habe, meiner Familie. Heute ist mein letzter Tag.


Was mich noch umtreibt: Am Donnerstag habe ich von einer Frage gesprochen, die ich meinen Eltern stellte und die mein Verhältnis zu ihnen nachhaltig verändert hat. Was könnten unsere Kinder mich eines Tages fragen? Lange dachte ich: "Kein Problem.", aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.


"Meine Generation" - ich halte mich für einen "68er" - verlässt gerade die politische Bühne in Deutschland. Schon länger beschäftigt mich die Frage nach einer selbstkritischen Bilanz des "langen Marsches durch die Institutionen". Ich lehne es für mich ab, alles "den Politikern" zuzuschieben, fühle mich ein Stückchen mitverantwortlich, gewissermaßen als ein Tropfen im Strom. Um diese Mitverantwortung geht es mir. Merkwürdigerweise komme ich mit dieser Haltung in meinem Bekanntenkreis nicht an, vielleicht auch deshalb, weil ich viele liebgewordene Sichtweisen infrage stelle. Ich bekomme dann Antworten wie "Was soll die Selbstbeschuldigung?" oder "Bist du jetzt ins konservative/neoliberale Lager eingeschwenkt?" Ich habe aber nicht den Eindruck, dass mir das gerecht wird. Natürlich habe ich dabei eine Wessi-Perspektive.


Zunächst das Positive:


"Wir" haben die europäische Einheit vorangebracht, sind gegenüber den USA etwas selbstbewusster geworden. Die Frauenbewegung (nach Habermas "die einzige erfolgreiche Revolution im 20. Jahrhundert") hat viel erreicht. Die Menschen haben in der Entfaltung ihrer persönlichen Lebensformen so viel Freiheit wie vielleicht noch nie. (Die deutsche Einheit ist uns - jedenfalls uns Wessis - in den Schoß gefallen, die Entspannungspolitik hat sie vielleicht etwas erleichtert, merkwürdigerweise ohne sie ernsthaft zu wollen.)


Über Umweltzerstörung und -schutz möchte ich hier nicht sprechen. Einerseits haben wir einiges erreicht (im Rhein gibts wieder Lachse usw.), aber ich fürchte doch, dass hier eines Tages die Bilanz vor allem im Hinblick auf das Verheizen der fossilen Energieträger ziemlich übel aussehen wird (allerdings sitzen wir hier im globalen Boot).


Nun das Kritische: Wir haben die Freiheiten genossen, ohne an die Folgen zu denken.


Es war toll, die Sexualität von der Verantwortung für Kinder zu befreien, wir haben von den Möglichkeiten von Empfängnisverhütung und Abtreibung (auch Scheidung) ausgiebig Gebrauch gemacht, gleichzeitig haben die Frauen die Berufswelt erobert. Aber jetzt fehlen uns die Kinder, das ist für Jahrzehnte nicht gut zu machen. Wir haben komplett ignoriert, dass die Nutzung dieser Freiheiten engagierte Familienpolitik im Privaten (Beteiligung der Väter) und im Öffentlichen (Ganztagsangebote usw.) notwendig macht.


Chancengleichheit als Element sozialer Gerechtigkeit und als Bildungsressouce zur Zukunftssicherung: Gerade hier waren wir mit dem sozialdemokratischen "Aufbruch" um 1970 voller Tatendrang, das Ergebnis ist erbärmlich. Das Wort "Vorschule" ist immer noch ein Fremdwort (siehe auch Ganztagsangebote).


Immigration: Wir liebten Multikulti, aber unsere Integrationspolitik war jämmerlich (z.B. müssen hier geborene Migrantenkinder doch mit gutem Deutsch und vergleichbarer Allgemeinbildung in die Grundschule kommen, um faire Chancen zu haben), siehe auch Chancengleichheit.


Und schließlich die Nationalökonomie:

Ich kam 1972 ins Berufsleben, drei Jahre nachdem Willy Brandt Kanzler geworden war. Es war wie im Märchen, zweistellige Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung, soziale Wohltaten aller Art. Gleichzeitig begann aber der Export der Arbeitsplätze (z.B. Textilindustrie). Die Statistik zeigt eindeutig: Die Kurve der Arbeitslosigkeit begann hier zu anzusteigen, und die Kurve der Staatsverschuldung genauso, und beides steigt bis heute kontinuierlich (die deutsche Einheit hat nur einen Sockel daraufgepackt). Wir blickten nur auf die kleinen Konjunkturschwankungen und versuchten sie mit weiteren Schulden zu bekämpfen, aber für den großen Trend waren wir blind. (Helmut Schmidt wars wohl mulmig, aber bei seiner Partei konnte er damit nicht ankommen. Der einzige, der das um 1980 auf den Punkt gebracht hat, war nach meiner Erinnerung Graf Lambsdorff, auf den haben wir nicht gehört, und Kohl hat einfach immer so weiter gemacht.)


Ich denke heute, dass die menschlichen Dinge dann in Ordnung sind, wenn sie ethisch (Verantwortung gegenüber anderen), ästhetisch (Lebensfreude) und ökonomisch (das Geld muss stimmen) im Gleichgewicht sind. Auf den Punkt gebracht meine ich: Wir haben die Ästhetik in den Vordergrund (neulich schrieb jemand 'Fordergrund') gestellt, die Ökonomie und einige andere Themen vernachlässigt und damit auch ethische Defizite und deren Folgen zu verantworten.


Man sieht, dass ich mich auf einige Fragen meiner Kinder gefasst mache, was ich aber antworten soll, weiß ich noch nicht so recht. Wahrscheinlich kommen noch welche dazu, von denen ich noch nichts weiß.


Liebes Tagebuch,

meine Woche ist zu Ende. Es war teils anstrengend, teils hats Spaß gemacht, aber in jedem Falle hat es mir gut getan, mich auch auf neue Gedanken gebracht. Und es hat mich mit tollen Menschen in Kontakt gebracht, denen ich sonst kaum begegnet wäre (nächste Woche werde ich ihnen schreiben). Herzlichen Dank für die Kommentare! Ich danke auch dem Carl-Auer-Verlag für die tolle Idee und die Einladung.


Tschöö (so sagt man hier in Köln)