Liebes Tagebuch,

gestern habe ich einige Andeutungen gemacht, auf die ich jetzt näher eingehen möchte. Die Rückmeldungen haben mich ermutigt, und ich fühle mich hier schon mehr zuhause. Es geht um eine Sache, die mich sehr bewegt und auf neue Gedanken gebracht hat.


bei meinem letzten Besuch in Krakòw gingen wir am letzten Abend ins alte jüdische Viertel Kasimierz, in ein traditionell eingerichtetes Restaurant mit koscherer Küche (ich hatte 'gefüllten Karpfen'), am späteren Abend gab es auch Klezmer-Musik. Ich war sehr einsilbig und die Unterhaltung der Anderen floss an mir vorbei. Ich musste an ein Ereignis aus dem letzten Jahr denken.


Meine Frau hatte mir die Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki geschenkt, und die erste Hälfte faszinierte mich. Plötzlich und ganz unerwartet brach ich schluchzend in Tränen aus. An dieser Stelle schildert MRR mit einigen dürren Satzen, absolut unsentimental, wie er als Bewohner des Warschauer Ghettos seine Eltern zum Todeszug bringt (S. 260), wärend er und seine Frau noch leben dürfen. Es war der Satz "Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig." Niemals zuvor hat mich Lektüre dermaßen bewegt.


An dem Abend im jüdischen Restaurant fiel mir plötzlich ein, dass ich den Eltern von MRR die Gesichter meiner Eltern gegeben hatte, ich erkannte sie in dem Satz wieder. Bei ihrem Tod 10 Jahre zuvor (beide starben um die 90 an langsam fortschreitenden Alterskrankheiten, Alzheimer und Osteoporose) war ich nicht traurig, eher erleichtert, dass diese Quelle ständiger Sorge nun versiegt war.


Als ich 15 war (1959), zeigten sie uns in der Schule einen Film über die Befreiung eines Konzentrationslagers, Berge von verhungerten Leichnamen usw. Ich kam nach Hause. "Wieso habt ihr mir nie davon erzählt?" Mein Vater, er war bestimmt kein Nazi und hasste das Militär aus ganzem Herzen (war aber, wie ich nach seinem Tod einem Entnazifizierungsdokument entnahm, 1936 der NSDAP beigetreten), sagte, man hätte ja nichts gewusst. "Aber nach dem Krieg? Da wusste es doch jeder." Meine Mutter sagte etwas, das ich hier nicht wiederholen möchte, es hatte mit einem schlechten Erlebnis aus ihrer Jugend zu tun. Da trat eine Distanz zwischen mich und sie, die wir nie überwunden haben. Ich musste mein Urteil von ihrem abkoppeln.


Das ist alles für heute.