Liebes Tagebuch,

komme gerade vom Stammtisch. Wir treffen uns ca. 4x im Jahr, 3 psychiatrische Klinikveteranen über 60 (einer gerade in Rente, der andere muss nächtes Jahr, er will aber noch nicht, was ich kaum verstehe).

Heute war nur Hannes da. Er sprach voller Verwunderung darüber, wie selbstverständlich sich seine Kids in der Welt bewegen (z.Zt. besuchen die beiden Söhne seine Tochter für einige Monate in Kamerun (sie macht dort ein chirurgisches Praktikum); einer war vor einigen Jahren 3 Monate in Kairo, hat dort sein Geld selbst verdient, teils im Armenviertel und teils im Luxushotel gelebt. Die Tochter von anderen Freunden war nach dem Abi einige Monate in Südamerika, will nach ihrem Studium wieder da hin (als Schülerin war sie 1/2 Jahr in Canada). Tolle globale Jugend!

Unser Martin (12, genau heißt er Martin Julian, aber den 2. Namen gebraucht er leider nicht) spielt mit Leidenschaft ein von einer koreanischen Airline betriebenes Internetspiel (natürlich werden dabei auch Monster gekillt), da trifft er Kids aus der ganzen Welt, von Japan bis Chile, sie unterhalten sich in Englisch. Neulich war ich wieder in Polen (später vielleicht mehr davon), mein Kollege Krzystof kannte das Spiel von seinen Kindern. Er spricht sehr gut Deutsch, weil er, wie er sagt, eine besonders schöne Deutschlehrerin hatte.


Seit 15 Jahren bin ich 1-2x pro Jahr in Polen, immer bei Kollegen, die das Systemische für die Psychiatrie gut brauchen können und mich deshalb einladen. Ich war und bin immer noch überwältigt von der Freundlichkeit, ja Freundschaft, mit der mir begegnet wird. Immerhin hatte der faschistische deutsche Überfall auf das Land neben entsetzlichen Zerstörungen (z.B. Warschau) den gewaltsamen Tod von 1/6 der Bevölkerung ("Untermenschen") zur Folge. Schrecklichste deutsche Verbrechen (ich erwähne nur den Ort Auschwitz bei Krakau für viele andere) haben hier stattgefunden, und sie wissen das natürlich alles, viel besser als wir. Ich habe oft den Eindruck gehabt, dass ich ganz diskret, fast unmerklich, 'getestet' wurde, wie ich dazu stehe. Niemals wurde mir etwas unter die Nase gerieben. Offenbar habe ich diese 'Tests' meist bestanden, was mich sehr erleichtert. Beim letzten Mal erzählte ich Jòzef erstmalig ziemlich offen von meinen Eltern, wie sie darüber dachten (mehr davon morgen), und er sprach in 3 Sätzenvon der Verfolgung von Juden durch Polen; niemals vorher war so etwas zur Sprache gekommen, ich habe es als enormen Vertrauensbeweis empfunden.


Genug für heute, ich muss ins Bett.

Herzlichen Dank für die verständnisvollen Rückmeldungen auf mein gestriges Schul-Lamento. Morgen kann ich Euch etwas persönlicher antworten.


PS. Seit gestern sind Rumänien und die USA "Waffenbrüder und Waffenschwestern" (Rice). Gegen diese hervorragende Gendercorrectness kann nicht mal Alice Schwarzer etwas einwenden. Hier noch ein Tip: Die rumänische Psychiatrie wäre bestimmt auch noch ein ausgezeichneter Ort, um verschwiegenen Verdächtigen die Zunge zu lockern.