Lieber Himmel hilf!

Da sitze ich nun und beginne meine Gedanken in die digitale Welt einzuspeisen. Nur gut, dass niemand da draußen ein Bild von der realen Welt, der Basisstation vor Augen hat, von der aus sich meine Überlegungen auf den Weg machen.


Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt, als man mich Ende Mai fragte, ob ich Lust dazu hätte... Gemütlicher auf alle Fälle, kontemplativer - so, wie man sich das eben so vorstellt. Auf alle Fälle nicht so, wie es inzwischen ist, inmitten der Beschaffenheit meiner aktuellen Wirklichkeit: Terrasse abgerissen, Bad abgerissen; zwischen mir und meiner Nachbarin darunter ist mein Boden bzw. deren Decke verschwunden, weshalb die gute Frau für sechs Wochen ausquartiert und in einem Hotel untergebracht wurde. Wer hätte denn im Mai dieses Jahres gedacht, dass eine kleine, undichte Stelle in meinem Terassenbereich drei Monate später zum Abriß der halben Wohnung führen würde?! Da es sich ohne Wasser- und Toilettenanschluß schlecht wohnen läßt, bin auch ich ausquartiert und nütze die Gelegenheit, mich innerhalb der nächsten sechs Wochen durch die Wohnungen meiner Berliner Freunde zu schlafen - Heute hier, Morgen dort.

Zur Zeit bin ich bei Norbert. Der wiederum hat hat keinen Internetanschluß, ja, nicht einmal einen ganz normalen Telefonanschluß. Was bleibt mir übrig, als "nach Hause" zu fahren, mich mitten in die Baustelle zu setzen, den Staub von der Computertastatur zu blasen und anzufangen. Soweit zur Realität.


Natürlich werde ich durchhalten. Ich werde in Cafés sitzen und kabellos über die Luft kommunizieren. Ich werde mir vorstellen, wie schön es ist, wenn alles hinter mir liegt und ich werde mir klarmachen, dass dies alles schon seinen Sinn und damit auch sein Gutes hat. Schließlich eröffnet sich jetzt die Möglichkeit, mir ein neues Bad einzurichten, den gesamten Fußboden abzuschleifen und was man sonst noch so machen könnte - mehr Staub und Dreck als jetzt, kann es nicht geben. Darüber hinaus lerne ich die Wohnungen meiner Freunde näher kennen, d.h. ich erfahre, wie es sich anfühlt dort zu übernachten. Man hat mich quasi eingestellt, als Schauspíeler, für ein sechswöchiges Theaterstück - ausgewählt aus hunderten von Bewerbern. Das Stück heißt "Öfter mal was Neues" und ich spiele die Hauptrolle in diesem Ein-Mann-Stück - die Rolle eines urbanen Zigeuners der Neuzeit, eines metaphysischen Obdachlosen. Ich werde aufhören zu jammern und euch da draußen klarmachen, dass ihr mich eigentlich zu beneiden habt. Der hat es gut: nette Freunde, viele Wohungen, schöne Frauen, die ihn bitten doch einige Tage bei ihnen zu verbringen, täglich neue Eindrücke, interessante Erfahrungen, gesellige Nächte - ungebunden und offen für alles. Ja, so werde ich mir die über der nächsten Zeit liegende Wirklichkeit möblieren. Ich werde es mir hübsch machen, gemütlich und prickelnd - gemäß unseres guten alten Story Dealer Slogans: Wir wollen zwar nicht, aber wir schaffen es schon!


Also, lieber Gott, wenn du mich schon auf die Welt gebracht hast, dann bleibe jetzt bitteschön auch konsequent und verschone mich von diesem Realo-Raum voll Wirklichkeit, der ist wirklich nicht für mich gemacht - der bringt nur Ärger.