Lesen vs. Schreiben

Eine der guten Seiten der Kommentare, die hier von Lesern gegeben werden, ist, dass sie mir immer wieder Themen liefern. Ich nehme dann Bezug darauf, in der Regel, ohne den Namen des Kommentators zu nennen (aber er oder sie weiss dann ja schon...).


Also: Warum muss man sich entscheiden, ob man liest oder schreibt?


Wenn man nur die Funktion von Kommunikation betrachtet, dass dadurch Handlungen koordiniert werden, so stimmt das im Blick aufs Lesen sicher auch, wenn auch in banaler Form: Schließlich liest ja einer, nachdem ein anderer geschrieben hat. Aber das ist nicht das, was hier gemeint ist.


Wenn man liest, versucht man - auf der Inhaltsebene - die Gedankengänge eines anderen nachzuvollziehen. Das gilt wahrscheinlich nicht so sehr für Belletristik, aber sicher für wissenschaftliche Texte, in denen argumentiert wird. Dies geschieht natürlich auf der Grundlage bestimmter Prämissen, die vom Leser nicht unbedingt geteilt werden. Sich in derartige, in sich mehr oder weniger konsistente, aber oft auch hermetische und eigenartige/eigensinnige Gedankengebäude einzudenken (d.h. nach -!- zu denken), erfordert, entweder keine eigenen Prämissen zu haben (was unwahrscheinlich ist) oder aber unter Schmerzen die Integration in das eigene Denken zu versuchen. Dabei verstrickt man sich immer wieder in Widersprüchen usw. Die Arbeit am Begriff ist nicht nur mühsam, sie verhindert auch oft - nicht unbedingt zwangsläufig - die Kreation eigener Modelle und Gedankengebäude.


Wer integriert, ist nicht kreativ.


Anders ist das, wenn man die Ideen anderer nur als Anregungen für die Weiterentwicklung eigener Modelle nutzt.


Ich kenne Leute, die sehr belesen sind, aber ausgesprochen unkreativ (ich nenne keine Namen). In der Universität sind sie gut als Prüfer geeignet. Man kann sie auch immer fragen, wer zum Thema x oder y etwas geschrieben hat, und sie können es sofort sagen. Die etwas kreativeren Kollegen sind hingegen nur sehr selektiv belesen und reagieren vor allem auf solche Texte mit Neugier, die in ihre Denklinie passen, d.h. von ähnlichen Prämissen ausgehen, und neue Aspekte eröffnen, weiter führen usw.


Offenbar hat diese unterschiedliche Wirkung von Lektüre etwas mit der unterschiedlichen Reaktion auf Irritationen/Perturbationen zu tun. Die belesenen Leute versuchen die Kontrolle zu gewinnen ("Beherrschung der Materie"), d.h. sie versuchen die Störung, die durch die Lektüre ausgelöst wurde, durch die intellektuelle Beherrschung des Stoffs zu beseitigen. Alle Energie geht in diese Arbeit. Die anderen erhalten durch die Irritationen/Perturbationen der Lektüre einen Kick, der sie ins Abenteuer des eigenem Denkens beamt...


Von Gregory Bateson ist, zum Beispiel, bekannt, dass er pro Jahr nicht mehr als ein oder zwei Bücher gelesen hat (Quelle: Tochter).