Konstruktivismus revisited

Freischwebende Aufmerksamkeit: ich liege bequem auf der Couch, mein iBook auf dem Schoß (ein drahtloses Netzwerk macht es möglich), schreibe, meinem Versprechen treu, an meinem morgigen, also heutigen Beitrag und kommentiere zwischendurch die Kommentare zum heutigen, also gestrigen Blog.


Zur Abwechslung möchte ich heute einmal behaupten, dass alles, was ich schreibe, wahr ist. Zumindest möchte ich mich aber auf jeden Fall der Bemerkung enthalten, dass alles, was ich behaupten werde, nicht wahr, sondern natürlich nur konstruiert ist. Diese gebetsmühlenartig gebrauchte Aussage geht mir nämlich, simpel ausgedrückt, zunehmend auf den Geist.


Mittlerweile wird dem Konstruktivismus und seinen Gründungsvätern in Hunderten von Büchern und Aufsätzen auf ähnlich rituelle Weise Referenz erwiesen, wie man das aus der psychoanalytischen Literatur in Bezug auf den Gründervater Sigmund Freud kannte und immer noch kennt. Da möchte ich mit Fritz Teufel ausrufen: "Wenn's der Wahrheitsfindung dient". Der Kreativität dient es sicher nur begrenzt.


Dass mich diese Behauptung jetzt im Kreis der konstruktivistischen Kampfgefährten nicht komplett erledigt, liegt natürlich daran, dass ich jederzeit fest auf dem Boden des konstruktivistischen Grundgesetzes stehe - und damit rechnen kann, dass das den meisten auch klar ist. Aber das Grundgesetz gehört aus gutem Grund nicht zu meiner Bettlektüre. Es ist notwendig, richtungsweisend … und langweilig.


Die Erkenntnis, dass wir alle nur Beobachter sind, die Beobachter beim Beobachten beobachten, wird zwar vom größten Teil der Menschheit offensichtlich noch nicht geteilt und ist insofern ein unverzichtbarer Exportschlager systemischer Theorie, auch für den innersystemischen Diskurs ist sie als Material für die entsprechenden Initiationsrituale der Einführungskurse unverzichtbar (Ohne Frage!).


Als Gegenargument gegen eine Aussage mit Geltungsanspruch würde ich den Hinweis auf die Tatsache, dass es sich dabei nur um eine Konstruktion handelt, aber gerne für immer und ewig auf die Strafbank setzen. Rote Karte für Inhaltsleere! Dass Argumente Konstruktionen sind, ist zwar eine (in meinem Augen wahre) Beobachtung, taugt aber nicht zur Entkräftung des beobachteten Arguments, da in diesem Falle der Wahrheitsstatus von Argument und Gegenargument identisch ist. Auf der inhaltlichen Ebene kommen wir nicht umhin, für unsere Aussagen Geltungsansprüche zu erheben. Auch der Konstruktivismus bedient sich einer Wahrheitssemantik (die manchmal nur etwas konjunktivisch verkleidet daher kommt) und muss dies auch der Genauigkeit seiner Aussagen zuliebe tun.


Das wiederum halte ich keineswegs für ein Argument gegen den Konstruktivismus (nach dem Motto: Wein predigen und dann auch nur mit Wasser kochen!). Der Konstruktivismus kann uns helfen, die Kontingenz unserer Konstrukte zu erkennen und diese historisch und sozial zu relativieren, also in Beziehung (zu anderen Konstrukten, Personen, Kontexten) zu setzen. Das ist schon eine Menge. Die Idee, dass alles ohnehin "nur" konstruiert ist, es also womöglich auf Wahrheit nicht "wirklich" ankommt, führt, so befürchte ich, in erster Linie zu schwachen oder schlampigen Konstruktionen. Um konzeptuelle Schwindsucht zu vermeiden, müssen wir also argumentieren, "als ob" wir wahre Sachverhalte ergründen, gleichzeitig aber immer wieder diese Rahmung durch eine Beobachtung zweiter Ordnung vornehmen.


Wahrheitskonzepte, und das mag man bedauern, haben in der Evolution die besseren Karten gehabt. Die eigene Wirklichkeit für wahr zu nehmen, hat durchschnittlich den höheren Überlebenswert. Und die Affekte, nicht die Kognitionen, sind dabei die relevanten Wahrheitsindikatoren. Dass der höhere Überlebenswert angesichts der Tendenz der Menschheit, sich selbst und ihre Umwelt für Wahrheitsansprüche zunehmend aufs Spiel zu setzen, heute nicht mehr ohne Weiteres gegeben ist, ist auch klar. Weshalb der Menschheit vielleicht ein wenig mehr Konstruktivismus beim Überleben helfen könnte. Dennoch gilt: wenn die Betriebstemperatur steigt, ist es mit dem Konstruktivismus schnell vorbei (man denke etwa an Versammlungen konstruktivistisch eingestimmter Weiterbildungsinstitute oder Verbände).


Der konstruktivistische Diskurs in seiner bisherigen Gestalt scheint mir im Großen und Ganzen ziemlich ausdiskutiert zu sein. Aus diesem Grund verspreche ich mir weitere theoretische Entwicklungen eher aus der Pflege von Theorien, die sich aus so genannten Beobachtungen erster Ordnung speisen, den entsprechenden Rahmen 2. Ordnung haben wir ja.

Und jetzt zitiere ich mich mal der Einfachheit halber selbst: "Eine konstruktivistische Theorie und Praxis müsste von ihrem Anspruch her in der Lage sein, über die Postulierung von Meta-Botschaften hinaus sich selbst zu beobachten, die Entwicklung eigener Positionen zu rekonstruieren und diese wiederum zu dekonstruieren, und damit gewissermaßen aus dem eigenen Theorie-Kapital Funken zu schlagen. Das hätte zur Voraussetzung, dass das theoretische Rüstzeug des Konstruktivismus aber nicht nur genutzt wird, seine eigene erkenntnistheoretische Ausgangslage immer neu zu formulieren, sondern auch dafür, empirische Zugänge zur Rekonstruktion der eigenen Wirklichkeitskonstruktionen zu eröffnen, die sich selbst ihrer Konstruktivität bewusst sind".


Und das wäre dann ein Erkenntnisprogramm, das es ermöglichte, beherzt allen möglichen Fragestellungen nachzugehen, Aussagen mit Geltungsanspruch zu formulieren, ihre Konstruktivität zu erkennen und zu würdigen, ohne sich durch sie allzu sehr beirren zu lassen. Zum Beispiel auch der Frage, ob Papageien träumen…