Kindeswohl und Sozialarbeit

25.1.2006


Wie ich schon gestern schrieb, möchte ich heute einige meiner vielen Gedanken zu dem aktuellen Thema Kindeswohlgefährdung zum einen und zur Arbeitssituation von MitarbeiterInnen in sozialen Einrichtungen schreiben.


Meldung von gestern in meiner Zeitung .... "Über das Schicksal der vier Geschwister, die dem Jugendamt ... am Donnerstag mit Verdacht auf Vernachlässigung übergeben worden waren, wird erst heute entschieden.... Die drei- bis achtjährigen Kinder waren unter anderem aufgefallen, weil sie bei Mitschülern um Pausenbrote bettelten und ungewaschen zur Schule und in den Kindergarten kamen. Der älteste Junge hatte einer Lehrerin gesagt, er sei von den Eltern geschlagen worden. Diese hatte die Polizei gerufen. Eine

Hausdurchsuchung zeigte eine mit Resten von Hundekot verunreinigte Wohnung, in der verdorbene Lebensmittel waren. Die Eltern hatten die Vorwürfe zurückgewiesen. " Dies die Meldung von gestern.


Am 14.1.06 zum gleichen Fall die Überschrift der Meldung " Kaum Essen, keine Heizung: Neunjähriger misshandelt. Untertitel: Junge wurde von Eltern in Kammer gesperrt. Klassenkameradin gab Tipp zu seiner Rettung."


Am 15.1.06 zum gleichen Fall die Überschrift der Meldung: " Misshandelter Junge: Familie wird seit Jahren betreut. Untertitel: Sozialarbeiter kamen regelmäßig in die Wohnung - nach Anmeldung. Stadträtin: Es hat sich nie bestätigt, dass der Neunjährige geschlagen wurde."


Ich bin über diese Heuchelei der Presse und auch der sogenannten "Öffentlichkeit" empört. Was glaubt diese Gesellschaft, was in den Familien los ist, nicht erst seit der toten Jessica, der toten Michelle, dem toten Dennis (seine 7kg schwere Leiche wurde im Tiefkühlschrank gefunden) dessen Eltern sich derzeit vor einem Cottbuser Gericht verantworten müssen. Was glaubt eigentlich diese Gesellschaft was Not und Elend mit Menschen machen? Was materielle Not mit den Haltungen, den Einstellungen von denen macht, die kein Licht am Himmel sehen, die selbst nichts anderes kennen, die Gewalt erlebt und erfahren haben, die diese Ausgrenzung aus vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen so aus ihrer Wahrnehmung ausgrenzen, dass sie in ihren eigenen Werten und Vorstellungen sich so weit von "uns" entfernt haben, dass wir schockiert sind.


Wie jetzt aus diesen Eltern Monster gemacht werden, als ob diese "Fälle" nicht überall lauern, mich es seit Jahren wundert, dass es nicht mehr tote Kinder gibt. Nicht nur wegen der hohen Bereitschaft wegzuschauen, sondern auch die Warmen nicht sehen (wollen), was es da an Kälte schon lange gibt. Das Wegschauen, weil es einen selbst immer näher heranrückt. Wie die Mittelschicht in den USA verschwindet, kann man jeden Winter dort erleben, wenn die Heizungen heruntergedreht werden, weil man wenigstens daran sparen kann und man zwei oder gar drei Jobs je Elternteil braucht, um die Familie zu ernähren. Es rückt näher das Elend, gestern wurde ein Supermarkt in meiner Nähe überfallen, der Verkäuferin an der Kasser wurde eine Waffe an die Stirn gehalten, eine Gegend in der so etwas sonst nicht geschieht. ... und die Jugendlichen, sie werden als potentielle Störer, als Bedroher erlebt. Mich wundert es übrigens, dass sie sich nicht mehr "wehren" - ein amerikanischer Kollege, dem ich vor einiger Zeit einige Entwicklungen in Deutschland darlegte, fragte: How much went the crime rate up? Nein, sie fällt sogar in vielen Bereichen, erstaunlich.


Reagiert man jetzt auf die Eltern, auf die Jugendlichen mit mir Kontrolle (Überlegungen zur Grundgesetzänderung zum Einschneiden der Elternrechte, als ob das die Probleme löst, die Gerichte könnten jetzt schon viel mehr eingreifen, jedoch kommen die Jugendamtsmitarbeiter oft nicht mit ihren Anträgen durch), mehr Herausstellen deren Bedrohlichkeit, weil man merkt, Monster kann man einlochen, möglichst für immer hinter Gitter bringen. Die Mutter des toten Dennis zeigt keinerlei Reue. Ja was denkt "man" denn, was in der vorgeht, nicht nur dass sie diesen Prozess aushalten muss, sie wird im Knast in einer Position sein, wo sie jeden Tag "überleben" wollen muss. Wenn sie Reue zeigen könnte, wenn sie Schuld auf sich nehmen könnte, wer wäre dann da, den Zusammenbruch "aufzufangen", für dieses Monster dazu sein?


Diese Gesellschaft macht es sich bequem zu denken, diese Fälle sind Ausnahmen - was sind in dieser Eklatanz ja auch sind - aber das Elend ist so groß in vielen Familien, dass doch die viele MitarbeiterInnen in Einrichtungen und Jugendämtern das Gefühl haben, sie führen einen Kampf gegen die Windmühlen.


Diese "Fälle" gibt es seit Jahren. Der Leiter des Jugendamtes sagt auch: Diese Fällen haben wir zu Tausenden". Und seit Jahren kümmern sich Mitarbeiter darum, dass diese Familien durch Hilfen irgendeine "Stabilisierung" erfahren. Wie viele Lehrer kennen es, dass Kinder in ihrem Elternhaus nichts zu essen bekommen, dass dei Kinder stinkend in die Schule "geschickt" werden (oder sich selbst schon in der 2. Klasse schicken). Wenn ich dann höre, dass mann die Vorschulzeit verpflichtend machen will und dass die Kosten dafür aus den eingesparten Geldern für die Hilfen zur Erziehung (hier in Berlin) genommen werden sollen, dann bin ich empört, denn diese Gelder werden gerade diesen Familien, die seit Monaten durch die Presse "gejagt" werden genommen bzw. sind ihnen genommen - und Leitungspersonal brüstet sich damit, wieviel man wieder eingespart hat.


Die Töpfe der "Hilfen zur Erziehung" sind vielfach in den Jugendämtern und für die Kämmerer Manövriermasse ihrer Haushaltsmittel, Rechtsansprüche werden derzeit massiv unterlaufen, ja man plant Gesetzesvorhaben, die dem "Luxus" einer unterstützenden Eltern- und Familienarbeit einen rechtlichen Rahmen gaben, zu ändern, damit man besser streichen kann. Der Aufschrei der Wohlfahrtsverbände als in der Föderalismuskommission Szenarien entwickelt wurden, das KJHG als Bundesgesetz nur noch als Gerippe stehen zu lassen und die "Ausführung" den Ländern (und damit der Willkür der Kämmerer) zu überlassen, fand kaum Gehör in der Presse. Übrigens auch nicht bei uns Familientherapeuten, bei uns systemischen Sozialarbeitern - und auch vor allem nicht bei den Hochschulen.


Es sind nur wenige, die derzeit dazu öffentlich den Mund aufmachen, die Zusammenhänge deutlich machen. Vor kurzem sagte ein Sozialarbeiter, dass er in der AG 78 schon aufpassen muss, was er sagt, da er sonst mit rechnen muss, dass sein Einrichtung auf der Streichliste ist - und er nicht weiß, ob die anderen Träger, wenn es hart auf hart kommt, noch die vereinbarte Linie mit vertreten werden - und ich denke, dass die das überhaupt schaffen, dass sie als Träger eine gemeinsame Linie fahren. Dezernenten verhandeln mit Einrichtungen als wären diese Wirtschaftsunternehmen, sollen ggfs. pro Fall Kostenvoranschläge einreichen, dann wird entschieden (kostengünstigstes Angebot), wer von den Trägern den Zuschlag bekommt - wo sind wir, dass wir so was Familien und deren Kinder zumuten, sind wir auf dem Jahrmarkt? Wo sind wir, die was sagen könnten, ohne vielleicht was zu verlieren, wo sind die Hochschullehrer, die doch alle auf beamteten Posten sitzen und sich einmischen könnten - oder sind die zu sehr mit sich selbst beschäftigt?


Am Mittwoch saß ich im Zug im Speisewagen und wartete auf meine Mahlzeit, nebenam am Tisch, Hochschullehrer einer Fachhochschule, allgemeines Abwerten der Studenten, die wären nicht mehr wie früher, würden nur fragen, was sie für die Scheine tun müssen usw. usw. Ich sage nichts, vertiefe mich weiter in einen interessanten Artikel darüber warum die Wunderfrage im Zwangskontext nicht klappt. Was denken sich die Leute, welche Studienbedingungen heute besteehen, mich graut es, wenn ich von solchen Nettigkeiten wie Anwesenheitslisten höre? Wo sind die Seminarangebote an den Hocschulen, wo Studenten lernen, sich genau in diesen Zeiten Strategien aneignen, wie sie Veränderungsprozesse in sozialen Einrichtungen so herbeiführen, dass sie eine Einflussnahme erleben, auf dei Politik, auf Politiker, auf ihre Arbeitgeber, auf Konzepte, auf Entscheidungsabläufe, auf Aktivierung der Klienten ... meine Hochschullehrer gibt es nicht mehr, aber die neuen, die Generation dazwischen, die heute 40jährigen, wo zeigen sie ihren Studenten politische Wege auf?


Ich versuche es in meinem kleinen Rahmen, wenn wir in den Weiterbildungen uns die Arbeitsplätze, die Arbeitsaufträge usw. usw. aus einer systemischen Perspektive anschauen, wo kann ich Einfluss nehmen, wen kann ich dafür wie gewinnen --- und sei es, dass es Ideen gibt, dass die Arbeitsbedingungen nicht schlimmer werden, dass 27 % Arbeitslosigkeit bei Sozialarbeitern/ Sozialpädagogen nicht nur Lähmung verursachen (wo bleiben da übrigens die vielen Psychologen, für die man nie Stellen ausgeschrieben sieht?) Ich habe dabei oft das Gefühl, ein gewisses Überleben für den einzelnen unterstützen zu können, aber das politische Denken und Handeln, wo bleibt es in den Ausbildungen an den Hochschulen (aber vielleicht ist es derzeit wichtiger neue Studiengänge zu entwerfen, das bringt ja auch mehr ein an Ruhm und?)


Sicherlich die Träger von sozialen Einrichtungen haben lange Jahre, lange Zeit das Blaue vom Himmel versprochen, was sie mit den Klienten erreichen können. Die Hochglanzbroschüren werden ja auch noch immer kräftig versandt, aber jetzt schauen die Jugendämter manchmal genauer hin und hinterfragen, warum das nicht so läuft, wie es "versprochen" wurde. Und dann geht es in der Einrichtung nicht selten die Hierarchie nach unten weiter: Was hat der Mitarbeiter "falsch" gemacht - Supervision- wofür die Jugendämter ja auch oft zahlen, wenn auch wenig - ist dabei Luxus (aber wo hat denn auch übrigens Supervision in den letzten 20 Jahren bei ihrem Boom der ausgebildeten Supervisoren nachgewiesen, dass sie was nützt, das es effektiv ist, dass es einen Unterschied macht?) So wie es eine "Individualisierung" gesellschaftlichen Elends gibt, so gibt es scheinbar auch Bestrebungen Verantwortung für das "Ausbleiben des Erfolgs" in der Arbeit zu individualisieren- der Schwarze Peter landet beim Mitarbeiter.


Es ist jetzt der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin der/die sich rechtfertigen muss. In dem Fall des 9jährigen aus der Familie ohne Heizung wurde nachgefragt, was denn da der Familienhelfer in der Familie mit 8 Kindern gemacht hat. Die Familie wird seit 15 Jahren betreut (was meines Erachtens nicht von einem sehr gelungen Konzept spricht, denn man könnte auch überlegen wie depotenzierend es wirkt, wenn man eine Hilfe nach der anderen in eine solche Familie gibt, das Scheitern allein der Familie anlastet, aber nicht schaut, ob das Konzept der "Betreuung" (helfen, anstatt helfen zu verändern) stimmt. Der Familienhelfer hat wahrscheinlich das getan, womit alle beteiligten Helfer mehr als einverstanden waren, nämlich die Familie zu betreuen, ggfs. mit der Einstellung, das dort keine grundlegenden Veränderungen (mehr) möglich sind, eine Mutter mit 8 Kindern, die von drei Vätern stammen... wie viel Optmismus hat da wer noch, wenn da so lange Zeit Betreuung läuft.


Wir Systemiker haben uns ja gerade im Bereich der Jugendhilfe sehr "ausbreiten" können, wir haben gute Konzepte eingebracht, ich glaube, dass die Jugendhilfe schlechter dran wäre, gäbe es in Bezug auf die Arbeit mit diesen Familien nicht so viele gute Ideen, kompetente Mitarbeiter und gelungene Hilfen .... aber wo bleibt unser politisches Engagement?


Was meinen Sie? Was sind Ihre Erfahrungen?


Heute zum Abschluss ein Gedicht von Hilde Domin:


###Kindersarkophag:###


Die Kinder tragen im Spiel


die unnützen Borgen ab


mit ihren Kinderhändern.


Ich habe es verstanden.


Die Ölbäume wachsen einen Zentimeter


ihrer langsamen Zeit


wennw ir lang genug leben.


Du brauchst es nciht zu sagen.


Manche der Kinder sterben


zehnjährig


und lieben auf ihrem Sarg.


Wir sehen uns nicht wieder.


Sarg von Vögeln und Blumen,


Jahrhunderte,


erstaunten Auges.


Wir sind schon andere.


Prinzenkinder.


Ohne die Liebe zu kennen.


Wir lernen Verlernen.


und noch ein Satz von Bert Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.


Ein guten Tag wünscht Ihnen


Marie-Luise Conen