Kant und Konstruktivismus

####Allgemeines Vorwort####


Der Carl-Auer-Verlag (ich schreib’ ihn jetzt mal *so*) hat mich gefragt, ob ich für die Woche vom 22. Mai 2006 die Weblog-Einträge schreiben möchte. Wie es so ist mit solchen Fragen: Sie kommen immer zur unrechten Zeit. Ich war völlig unvorbereitet und hatte diesmal *wirklich* wirklich keine Zeit und mußte mich kurzfristig entscheiden. Ich fühlte mich natürlich geehrt (... gut, ich bin in diese Falle getappt ...). Und da meine Neugier und meine Lust, das zu probieren, größer waren als meine Angst vor einer Blamage (dies vielleicht eine prinzipielle Haltung, die auch und gerade Lektoren und Lektorinnen entweder *haben* oder *einnehmen* sollten), habe ich zugesagt. Zumal mir versichert wurde, daß die einzelnen Beiträge untereinander keinen unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang aufweisen müßten und daß ich auch aus meinem literarischen Fundus schöpfen könnte (und somit natürlich auch preisgäbe, daß Lektoren eigentlich sowieso am liebsten Belletristik ... *schreiben* möchten). Mal sehen.


Für Montag jedenfalls habe ich ein Thema gewählt, das mir ohnehin schon länger im Kopf herumging und den Vorteil hatte, daß ich es relativ rasch (nach Abfassung des Beitrags eingefügt: na!) skizzieren konnte: *Kant und Konstruktivismus*.


####Spezielles Vorwort####


Über meinen Schreibtisch gingen und gehen viele Manuskripte, die sich in der einen oder anderen Weise dem Konstruktivismus und seinen tatsächlichen oder möglichen praktischen Konsequenzen und Auswirkungen widmeten und widmen. Hatte ich zunächst den Eindruck, daß der Konstruktivismus nur eine weitere interessante Variante in der uralten (europäischen) Debatte zwischen Empirismus und Rationalismus darstelle, so wurde mir bald klar, daß es sich um einen eigenen und neuen philosophischen Zweig handeln könne mit eigener und neuer Praxis. Es scheint mir auch kein Zufall zu sein, daß in der Zeit, in der der Konstruktivismus entwickelt wurde, die Hirnforschung zunehmend an Bedeutung gewann (oder umgekehrt).


Ich finde es nun aber sehr merkwürdig und auch ein wenig beunruhigend, daß in all den konstruktivistischen Schriften, die ich kenne, Kant niemals vorkommt (mit Ausnahme einer allereinzigen, aber vernachlässigbaren Fußnote). Es mag natürlich sein, daß Abhandlungen über Kant und den Konstruktivismus vorliegen, ohne daß sie mir bekannt sind. Ich habe ja auch nicht systematisch danach geforscht. Allerdings müßten mir diese Abhandlungen aus der Fülle der konstruktivistischen Schriften, die ich auf meinem Schreibtisch hatte, wenigstens sozusagen sekundär bekannt sein. Ich finde das deshalb merkwürdig, weil ... Nun: meine These.


####Meine These####


*Immanuel Kant ist der erste (mir bekannte) und gleich auch radikalste Konstruktivist.*


Ich will das kurz begründen.


Nach eigenen Worten vollzieht Kant in der Erkenntnistheorie eine kopernikanische Wende (siehe zweite Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“, z.B. S. B XVI f.). Es geht ihm nicht darum: wie die Gegenstände der Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten in den Kopf der Menschen gekommen sind, ob erst durch die Erfahrung oder schon vor aller Erfahrung. Verkürzt gesagt, es geht ihm um mehr: „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten.“ Er versucht es – und gelangt zu der ja schon revolutionären Schlußfolgerung, daß unser Verstand die Naturgesetze nicht schon enthält, bevor er sie entdeckt, sondern, radikaler: daß unser Verstand der Natur die Gesetze *vorschreibt*. Vgl. z.B. „Prolegomena“, Ende § 36 (alle folgenden Hervorhebungen im Orig.); „[...] der Verstand schöpft seine Gesetze *(a priori)* nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“


Nun kann man einwenden, Kant gehe es in erster Linie um apriorische metaphysische Erkenntnis. Das ist richtig. Aber er kann, man kann dabei nicht stehenbleiben. In der „Kritik der Urteilskraft“, die es ja zunächst mit sehr unmetaphysischen, nämlich menschengemachten künstlerischen Gegenständen zu tun hat, heißt es etwa, § 6: „Das Schöne ist das, was ohne Begriffe als Objekt eines *allgemeinen* Wohlgefallens vorgestellt wird.“ Und: „[...] so kann er [der Urteilende] keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt alleine hängte, und muß es daher als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem anderen voraussetzen kann; folglich muß er glauben[,] Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“ Ich habe jetzt der Kürze halber nur *eine* (die dritte) Bestimmung der vier Kantschen Momente des Geschmacksurteils herausgegriffen. Überspitzt formuliert, sagt Kant (er sagt es, soweit ich sehe, nirgends so): Der Verstand schreibt dem Kunstwerk vor, wie es sein müsse, damit es schön sei. – Ich kann das hier nicht ausführen, doch habe ich das Gefühl, daß auch die „Kritik der praktischen Vernunft“ vor dem Hintergrund der Kantschen kopernikanischen Wende zu interpretieren wäre (§ 7: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“).


Ein Wort noch zum „Ding an sich“. Kant sagt, daß wir nicht erkennen können, wie die Dinge „an sich“ seien, sondern daß sie uns lediglich „affizieren“, also uns berühren, etwas in uns anrühren, auf uns (unspezifisch) einwirken, uns zu etwas (was auch immer) anregen usw. Die Parallelität der autopoietischen systemisch-konstruktivistischen Grundannahme zu Kants Auffassung liegt auf der Hand: Die Außenwelt – die Umwelt(en) – kann nicht direkt auf ein System, z.B. einen Menschen, einwirken, sondern sie kann lediglich das Innere eines System, seine inneren Zustände, anregen, etwas (was auch immer) zu tun oder eben auch nicht zu tun; stets mit ungewissem Ausgang, siehe „nichttriviale Systeme“.


Was hieße das alles?


####Schluß####


Ich glaube, kürzer ging es nicht mit dem Skizzieren, aber länger soll es auch nicht werden. Ich würde mich freuen, wenn meine These in irgendeiner Form aufgegriffen würde. Ich will aber auch nicht verschweigen, daß ich höchst beruhigt wäre, würde meine These beinhart widerlegt. Denn dann wäre ich bei Manuskripten zum Konstruktivismus, die künftig meinem Schreibtisch zustreben, endlich und ein für allemal meine Idée fixe los: Verdammt, verdammt, wo bleibt der Kant?!?