Jammerpause II

*„Wir wünschen euch ein frohes Jahr! Kaspar, Melchior, Balthasar“,* singen die Kinder der katholischen Gemeinde, in den Kostümen der Heiligen Drei Könige. Sie gehen von Haus zu Haus und schreiben ihre Initialen mit Kreide über die Haustüren. Sie singen gewissermaßen für die Jammerpause. Protestantisch-aufgeklärt aufgewachsen, habe ich von solchen Ritualen früher recht wenig bis gar nichts gehalten. Heute sehe ich das von einer etwas anderen Warte, also mit mehr Toleranz und je kälter die Zeiten werden mit mehr Sympathie.


Der heutige Dreikönigstag kennt seit vielen Jahren zwei besondere Rituale, die mit dem christlichen Festtag gar nichts zu tun haben: das Dreikönigstreffen der FDP in Stuttgart und das vierte Springen der Vierschanzentournee im österreichischen Bischofshofen. Skispringen fasziniert mich immer wieder. Was für ein toller Sport, in schwindelnder Höhe auf einem Backen zu sitzen, in eine höllisch steile Spur zum Schanzentisch zu blicken und den totalen Abgrund dahinter zu ahnen, der von tausenden von Zuschauern gesäumt ist! Selbst vor dem Fernseher stellt sich bei dieser Kameraeinstellung ein ziemliches Unbehagen ein. Dann gleiten die jungen Männer los, schweben scheinbar schwerelos vom Schanzentisch, um nach wenigen Sekunden bis um 140 Meter weiter unten zu landen, beim Skifliegen gar bis über 200 Meter.


Und wovor haben diese wahren Helden der Lüfte Angst? Nicht vor dem Abgrund, wie sie versichern, sondern davor, zu kurz nach dem Absprung herunter zu kommen. Nein eigentlich überhaupt keine Angst, sagen sie ... Dann schauen Sie mal in die ernsten Mienen einiger Trainer. Mancher erweckt den Eindruck, als sei Lachen für ihn ein strafwürdiges Vergehen.


###Erinnerung an erfolgreiche Skispringer###

Erinnern Sie sich einen Augenblick: Sven Hannawald war vor wenigen Jahren der historische Held der Vierschanzentournee. Nie zuvor hatte ein Skispringer alle vier Einzelspringen gewinnen können. Und dann? Vor zwei Jahren kam der Einbruch. Burnout eines Skispringers und vor dem Beginn der neuen Saison der endgültige Abschied. Erinnern Sie sich an die wunderschönen Sprünge und Erfolge von Martin Schmitt? In diesem Jahr musste er wegen seiner kleinen Sprünge bereits vor dem Ende der Tournee nach Hause reisen: Sondertraining. Michael Uhrmann galt vor dem diesjährigen Tourneebeginn als heißer Favorit auf Einzel- wie Gesamtsiege. Gestern bei der Qualifikation reichte es zu Platz 11.


Was hat das alles mit dem Wunsch nach einer Jammerpause zu tun? Es scheint einfach irgendwie der Wurm im System zu sein. Und was da alles kritisiert wird: Der Absprung einmal zu spät, einmal zu früh, den Sprung „abgestochen“, der Kopf nicht hoch genug beim Absprung, die Skier zu steil angestellt, überhaupt keine Spannung, zu früh „aufgemacht“, einseitig abgesprungen, kein richtiges Absprungverhalten. Lauter Formulierungen aus dem Mund der Fernsehkommentatoren.


Ich bin weder Experte noch Insider. Aber was sich dem interessierten Zuschauer bietet, wirft Fragen auf. Es ist sehr auffällig, dass immer wieder einige Springer offenbar das untrügliche Fluggefühl entwickeln. „Da stimmt alles“, heißt es dann. Momentan scheinen das Springer wie Jakub Janda, der Tscheche, der Schweizer Andreas Küttel und der Finne Janne Ahonen zu sein. Sie sprechen in Interviews davon „einfach ein gutes Gefühl“ (Küttel) zu haben und wie schön das sei. Die deutschen Springer dagegen sprechen von „Kleinigkeiten“. Man müsse an dieses und jenes denken. Im „Großen und Ganzen“ war das jetzt ein guter Sprung. An dem, was noch fehle, müsse gearbeitet werden, meint Alexander Herr, gestern auf dem beachtlichen Platz 9 qualifiziert für heute. Er sagt das etwa wie ein Ingenieur, der noch einiges an seiner jüngsten Erfindung verbessern muss. Bei technisch anspruchsvollen Sportdisziplinen wie Skispringen oder Tennis, müssen Bewegungsabläufe aber so gut im prozeduralen Gedächtnis verankert sein, dass sie wie selbstverständlich geschehen können. Wir wissen heute, dass das unbewusst arbeitende Handlungsgedächtnis durch das Bewusstsein kontrolliert werden kann. Wir wissen aber auch, dass dieser Eingriff des Verstandes in diese Abläufe zu einer Störung derselben führt. Einfache Beispiele: Wenn ich nicht einfach gehe, sondern meinen Verstand einschalte, um zu prüfen, wie ich gehe, dann verändert sich mein Gang. Oder: Sie schreiben einen Text. Das läuft ganz problemlos. Nun begleiten Sie Ihr Schreiben mit dem Vorsatz: „Ich darf jetzt keinen Fehler machen!“ Es wird nicht lange gehen und Sie werden unsicher oder machen Fehler. Probieren Sie es einfach aus. Das ist wohl auch das Geheimnis des so genannten Murphy-Gesetzes: Wenn etwas schief gehen kann, dann passiert das auch. Vielleicht auch: Die Angst vor dem Versagen führt zum Versagen. „Ich muss meinen Kopf frei kriegen“, sagen sie dann im Interview. Nur das „gute Gefühl“, also eher ein ganzheitliches Geschehen schenkt wohl dem System die richtige Funktion und verhindert, was schief gehen könnte.


###Wo ist der Ausgang aus dem Jammertal?###

Ich weiß nicht, wie man die Probleme der Skispringer und deren Trainer lösen kann, welche Methoden des Mentaltrainings es gibt, mit deren Unterstützung der Mensch frei werden kann für den optimalen Sprung. Ich weiß aber etwas über Lernprozesse. Und dieser hier wird gestört, da bin ich mir ganz sicher. Vermutlich von innen und von außen. Da gibt es so etwas wie das Gedächtnis des Körpers für Bewegungsabläufe. Das verträgt gewissermaßen keine Einmischung. Bei manchen Interviews mit den unglücklichen Helden nach verpatzten Sprüngen klingt das aber so, als hätten Sie die Elemente ihrer Sprünge unterwegs aneinander schrauben müssen. Genau das aber geht nicht. Skispringen ist keine Konstruktion mit Hilfe des Verstandes, sondern des Gefühls, fast so etwas wie eine heilige Handlung.


Wie dem auch sei, wenn heute am späten Nachmittag der erste Durchgang mit dem paarweisen Gegeneinanderspringen beginnt, werde ich gebannt vor dem Fernseher sitzen und auf die kleinen Wunder warten. Dabei ist es (mir wenigstens) ganz egal, um wen es sich handelt und woher er kommt, dem so etwa geschieht. Aber ich wünsche es jedem, gerade den zuletzt eher weniger erfolgreichen Springern, dass sie es an sich erleben, wie das ist: der perfekte Sprung, der einfach so geschieht. Dann freue ich mich mit jedem, der im Auslauf für sich jubeln kann und habe ein wenig Anteil an diesem schönen Gefühl, das mir ja durchaus nicht fremd ist, wenn auch nicht vom Skispringen her. Wie das kommt, dazu werde ich vermutlich am Sonntag etwas zu schreiben haben. Man darf gespannt sein, welches heute die drei Könige der Vierschanzentournee auf dem Siegertreppchen sein werden.


Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser eine anhaltende Jammerpause an diesem (leider nicht überall) Feiertag und weit ins Jahr hinein.


Herzlichst, Horst Kasper