Ist die Psychologie als Naturwissenschaft gescheitert?

In der Dezember-Ausgabe der „Psychologie Heute“ schreibt Manfred Velden „Die Psychologie ist als Naturwissenschaft gescheitert“. An vielen Universitäten dagegen wird Psychologie meist als reine Naturwissenschaft angesehen. Vor einigen Jahren am Beginn meiner Dissertation zum Thema „Systemische Führung“ sprach ich in einem Seminar mit einer Universitätlektorin des Psychologie-Institutes der Universität Wien. Sie meinte eine wissenschaftliche Arbeit über „Systemische Führung“ sei nicht sinnvoll und auch nicht möglich, da „systemische“ Themen eher philosophisch sind und sich einer naturwissenschaftlichen Betrachtung entziehen. Ich lies mich allerdings von dieser Aussage nicht abschrecken, und promovierte mit genau diesem Thema im Fach Wirtschaftspsychologie – allerdings an der Wirtschaftsuniversität Wien.


Der Mainstream der wissenschaftlichen Psychologie (insbesonders auch an der Universität Wien) setzt auf eine konsequent eingehaltene naturwissenschaftlichen Forschungstradition. Auf Grund der sehr spannenden Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die im Moment (zurecht) sehr viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, scheint allgemein der Biologismus der Psychologie derzeit sogar noch zuzunehmen. Und genau deshalb erscheint mir die oben zitierte Aussage von Prof. Velden umso beachtenswerter. Denn hier kritisiert die naturwissensachaftliche Ausrichtung der Psychologie nicht jemand, der in einer anderen Studienrichtung oder am Rande des psychologischen Diskurses verankert ist, sondern ein Insider der (natur-)wissenschaftlichen Psychologie. Manfred Velden ist emeritierter Professor der Psychologie, er veröffentlichte viele Schriften zu Psychologie und Biologie. In umfangreichen Projekten forschte er über die Physiologie der Aufmerksamkeit und des Herz-Kreislauf-Systems, über Psychophysik, Schmerz, Schlaf und die Erblichkeit mentaler Eigenschaften – alles Kernthemen einer naturwissenschaftlichen Psychologie. Und gleichzeitig bringt sein Standpunkt (wieder) der Multiperspektivität in die Psychologie ein: „Deswegen trete ich nicht für die eine oder andere Seite ein: eine geisteswissenschaftliche oder eine naturwissenschaftliche Psychologie. Weil die Psychologie als systematische Naturwissenschaft gescheitert ist, müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass sie, wenn sie eine gut anwendbare Wissenschaft sein will, einfach das nehmen muss, was da ist. … Man kann nach 100 Jahren empirischer Forschung nicht mehr sagen: Die Psychologie ist eine noch junge Wissenschaft, und wenn wir fleißig weiterarbeiten, können wir irgendwann wie in der Physik Methoden oder Grundtatsachen effektiv anwenden. Dazu wird es nicht kommen“.


Aus systemischer Sicht kann ja Scheitern immer auch eine Chance sein. Vielleicht schafft ja die Psychologie dadurch die zentrale Vermittlerstellung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu erreichen, wie Wilhelm Wundt bereits 1883 betonte: „Die centrale Stellung, die ich der Psychologie zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften angewiesen [habe], mag […] betont worden sein […]; dennoch ist es meine Überzeugung, daß sie tatsächlich der Bedeutung entspricht, welche diese Wissenschaft nicht jetzt besitzt, aber in der Zukunft besitzen wird“. Gelehrt wird allerdings in der Psychologie sehr oft, dass Wundt, der Begründer der naturwissenschaftlichen Psychologie, die Psychologie als reine Naturwissenschaft begründete, und damit wird sowohl ihm als auch der Psychologie unrecht getan. Denn aus meiner Sicht ist es gerade, die multiperspektivische Sicht einer Psychologie, die sich als Mittler zwischen „harten“ und „weichen“ Wissenschaften sieht, das, was dieses Fach so spannend macht. Meine Antwort auf die Frage, ob Psychologie Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft sei, ist daher „sowohl als auch“. Sowohl naturwissenschaftliche als auch geisteswissenschaftliche bzw. sozialwissenschaftliche Aspekte sind aus meiner Sicht für psychologische Sachverhalte wichtig.


Um an meinen gestrigen Artikel anzuschließen: mir scheint auch in der Betrachtung der wissenschaftlichen Ausrichtung der Psychologie (konstruktiver) Dissens wichtiger zu sein als (gleichmachender) Konsens. Welche Präferenzen haben Sie: eine Psychologie als Naturwissenschaft, als Humanwissenschaft oder als Sozialwissenschaft? Oder ist diese Frage sowieso nur von akademischen Interesse? Und ist die Psychologie als Naturwissenschaft gescheitert?