Irritation II

Guten Abend, liebe LeserInnen,


die angesprochene Lehrveranstaltung war an dieser Stelle natürlich NICHT beendet, nur der gestrige Beitrag. Sorry, Herr Levold.


Hiermit schiebe ich den Vermerk nach. Die „Kopie“ ist von mir in Gänsefüßchen gesetzt worden, da es streng genommen gegen den Datenschutz verstiesse, einen Vermerk, auch wenn er die Beteiligten anonym liesse, ohne Erlaubnis zu duplizieren und systemextern weiterzuverarbeiten.


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Bezirksamt Berlin-Höllersdorf Vermerk


Allgemeiner Sozialer Dienst


Frau Solkowa kam in Begleitung eines Bekannten kurz vor Schluss in die Sprechstunde.


Sie weint und berichtet, dass sie sich von ihrem Mann, mit dem sie vor zwei Jahren hergezogen ist, trennen will. Mit ihm und ihrer gemeinsamen Tochter bewohnt sie noch eine gemeinsame Wohnung. Deutlich wurde bei ihrer Erzählung, dass ihr Mann Alkoholiker ist. Er habe schon mehrere Male die Suchtberatung im Bezirk aufgesucht, doch er bagatellisiert seinen Konsum. Derzeit trinke er mehr als früher, weil er vor kurzem seinen relativ gut bezahlten Job verlor. Sie halte nun das Trinken in der engen Wohnung nicht mehr aus, jahrelang habe sie es toleriert und mitgelitten. Wenn ihr Mann trinkt, dann kommt es ab und an zu grösseren Konflikten. Doch jetzt ist sie am Ende ihrer Kräfte.

Ihre Tochter ist 14 Jahre alt. Sie hat die Dinge genauso erlebt und möchte in jedem Fall mit der Mutter zusammen bleiben.


Frau Solkowa erbittet Hilfe, weil sie nicht weiter weiss.


Hier endet der Vermerk, freilich aus didaktischen Erwägungen.


Mit einem Seitenblick auf eine [operativ] konstruktivistische Epistemologie könnte die Frage erst einmal interessant sein, was ist in der gegebenen Situation real [im Kontrast zum -- nichttrivialen-- Realismus oder dem radikalen Konstruktivismus]?


In dieser Szene kam es zur der Ersteinschätzung von Studierenden, dass die Trennungsabsichten der Frau überaus real seien.


Nun, Sie vermöchten sich leicht vorstellen, dass ich diese radikalontologische Vorlage erfreut – quasi mit voller Brust – annahm und mit einem gemässigt konstruktivistischen Rückpass zum eigentlich im zentralen Mittelfeld aufgestellten Niklas Luhmann weitergab, der aus sicherer Entfernung (!) diese typisch europäische Spielentwicklung ganz mit Gelassenheit DAUERBEOBACHTET.


Real, folgt man der von mir tentativ vertretenen Theorieofferte und setzt sie in Bezug auf die Übung, ist nurmehr die Operation der Beobachtung. Die Operation der Beobachtung ist [für den Beobachter] real. Wäre sie z.B. fiktional, wäre sie [für ihn] sinnlos oder meinetwegen wertlos, gesetzt den Fall, ihm ist es etwas wert, sich in der Welt irgendwie zurecht zu finden.

Irgendwie ist der Vermerk selbst auch real existierend, immerhin ist er eine fixierte Beobachtung, eine vertextete Akkumulation von Unterscheidungen, die auf Dauer gestellt wurden. Die Funktion des Vermerks ist sowohl entlastend als kontrollierend: er entlastet den Beobachter, seine gemachten Unterscheidungen auf seinem Monitor behalten zu müssen. Gewissermassen als Folge der Professionalisierung des Helfens [und Kollateralschaden der Einführung des Buchdrucks] ermöglicht er anderen Beobachtern [e.c. Gruppenleiter] zudem die Kontrolle des Beobachters [Sozialarbeiter].


ALLE sonstigen Ingredentien des Vermerks [e.c. Konflikt, Exklusion] sind jedoch Unterscheidungen eines Beobachters, die auch anders abfallen könnten [z.B. wenn anders beobachtet, d.h. anders unterschieden wird].


Freilich werden so zukünftige Sozialarbeiter in derart postmodernen Lehrveranstaltungen wie denen, die an der FH Potsdam im Fachbereich von Heiko Kleve angeboten werden, sukzessive der Gewissheit beraubt, dass sie einen Fall VERSTEHEN könnten. Jedenfalls hoffe ich das doch sehr.


Ein wichtige Theorieschneise hinein in den Dschungel der Systemtheorie ist damit geschlagen; nicht mehr und nicht weniger:

die Studierenden [B3O]* beobachten [lesen] die vertextete Beobachtung [Beschreibung] einer Beobachterin [B20], die eine Beobachterin [B10] beobachtet. Augenfällig sind hier die Modalisierungsräume, die jede weitere Beobachtungsbeobachtung aufspannt.


Falls Sie sich jetzt fragen, was ich sonst so beobachte, so darf ich aus aktuellem Anlass sagen, dass die sorglose und unaufgeregte Beobachtung meiner vier Wochen alten Tochter [die aufgeregt an ihrem Zeichenvorrat bastelt] darunter leidet, gerade weil ich sie eben nicht aus den Augen verlieren möchte.


Bis morgen und darf ich dann mit der begonnenen Konkretion des Abstrakten weiter machen?


Mit herzlichen Grüßen

Jan V. Wirth


*Beobachter dritter Ordnung