Intuition

Bach, Einstein und van Gogh – was hatten diese drei gemeinsam, abgesehen von ihrer Genialität? Eine große Expertise in ihrem Fach. Mit anderen Worten: Sie wussten und konnten ungleich mehr, als Sie oder ich, wenn wir zum Musizieren, Forschen oder Malen anheben. Aber sie hatten noch etwas in ausgeprägtem Maße: Intuition. Mehr als Sie und ich? Ich möchte behaupten: ja.


Aus meiner Sicht gibt es mindestens zwei verschiedene Formen von Intuition: Spezifische und unspezifische.


Die spezifische bezieht sich auf eine bestimmte fachliche und häufig berufliche Domäne, zum Beispiel die Musik. Van Gogh hätte keine genauso geniale Inspiration und Intuition zu Komposition und musikalischer Interpretation geleistet, wie Bach oder Mozart. Und die meisten von uns hätten vermutlich nicht durch einen fallenden Apfel wie Newton dessen profunde physikalische Schlussfolgerungen gezogen (woran uns Stefan Habicher in seinem Kommentar zu meinem Montagsbeitrag erinnerte). Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass wir nicht über dieselbe Expertise verfügen. Da sich Intuition zum Teil aus unserem Erfahrungswissen speist, verfügen Experten über häufigere intuitive Eingaben, als Anfänger desselben Faches. Diese Erkenntnis ist nicht allzu neu und findet sich beispielsweise in der Forschung zu künstlicher Intelligenz bei Dreyfus und Dreyfus. Andererseits neigen Experten zu häufigeren intuitiven Fehlurteilen eben durch ihre Expertise. Beispielhaft wurde dies in der ärztlichen Diagnose untersucht. Das Ergebnis: Wenn ein Arzt eine bestimmte Krankheit häufig diagnostiziert hat, neigt er dazu, vergleichbare Symptome bei einem neuen Patienten mit der ihm besonders bekannten Diagnose intuitiv in Verbindung zu bringen – auch wenn es sich faktisch um eine andere Krankheit handelt.


Unspezifische Intuition betrifft beispielsweise menschliche Beziehungen. Denen ist jeder ausgesetzt, der nicht alleine im Wald haust und von Beeren lebt, im Gegensatz zur Komposition von Fugen oder malerischen Selbstportraits, die für die wenigsten von uns alltägliches Brot sind. Selbstverständlich wirkt auch hier als mächtiger Attraktor unsere (un-)bewusste Erfahrung, die wir bis jetzt gemacht haben und zukünftig noch machen werden. In diesem Fall bedarf es keiner besonderen Expertise (ich sehe schon den einen oder anderen Therapeuten zucken...) sondern einfach nur einen achtsamen Umgang mit dem, was uns im täglichen Beziehungs- und Kommunikationsreigen widerfährt. Sicher, je öfter wir kommunizieren und Beziehungen mitgestalten, um so eher werden wir später wiederum aus unserem Erfahrungsschatz schöpfen können (mit denselben Risiken und Nebenwirkungen, die ich oben kurz skizzierte). Aber Intuitionen hinsichtlich beruflicher oder privater Beziehungen hat jeder, fragt sich bloß, ob er oder sie dies wahrnimmt und wie damit umgegangen wird.


Kann uns Intuition wie dargestellt, fehlleiten, oder ist sie doch unfehlbar wie der Papst? Einige KollegInnen versuchen mir seit geraumer Zeit klar zu machen, dass Intuition einen niemals täuschen könne. Es sei lediglich eine Frage, ob man in seiner Mitte ruhe und seinen Weg kenne (heißt das im Umkehrschluss, dass ich nicht intuitiv sein kann, wenn ich meinen Weg nicht kenne??). Zweifelsohne ist Zentrierung ein wichtiger Aspekt intuitiver (Selbst-)Steuerung, aber reicht das schon, um jedes mal in den Genuss intuitiver Volltreffer zu gelangen?


Überhaupt: Welches Begriffsverständnis mach Sinn? Intuition als unfehlbare Weisheit mit göttlicher Qualität oder als menschliches Vermögen mit menschlichen Schwächen? Und was würde aus dem einen oder anderen Verständnis folgen? Sind wir einmal von Gott geküsst (oder gar identisch mit ihm oder ihr) und das andere mal einfach nur uns selbst überlassen? Hm, Fragen über Fragen. Um das Nichtwissen über Intuition noch weiter anzureichern vielleicht noch eine weitere Grundsatzfrage:


Kann Intuition trainiert, mithin professionalisiert werden? Oder bedeutet dies die Quadratur des Kreises? Würde ein Training Intuition entzaubern? Oder sollte Intuition vielleicht sogar von ihrem mystischen Sockel gehoben werden? Weitere Anregungen finden Sie

[hier](http://www.psychophysik.com/html/re-0831-chaos.html "Am Rande des Chaos. Intuition als selbstorganisierende Intelligenz").


Ich freue mich über komplett kontroverse Kommentare. Herzliche Grüße,


Andreas Zeuch