Internet-Flaneur

Ich halte mich im Vergleich mit den meisten mir persönlich bekannten Zeitgenossen überdurchschnittlich häufig im Internet auf. Aber was macht man eigentlich „im Internet“? Die in der Frage enthaltene Metapher legt die Antwort schon nahe. Es geht um die Bewegung im Raum. Um welche Art von Raum und welche Art von Bewegung - nun, da sind unterschiedliche Konzepte denkbar. Durchgesetzt hat sich die Idee vom Internet-Surfen, eine mächtige Metapher, die ihren Siegeszug in weniger als 15 Jahren praktisch vollendet hat. Birte Schnadwinkel hat in ihrer lesenswerten [Magisterarbeit](http://www.metaphorik.de/aufsaetze/schnadwinkel.pdf "Magisterarbeit") 2002 die sprachliche Erschließung des Mediums Internet durch Metaphern behandelt und schreibt auf S. 45f.: „Es war die New Yorker Bibliothekarin Jean Armour Polly, die 1992 den Begriff einführte, als sie für die Fachzeitschrift Wilson Library Bulletin einen speziell für Anfänger konzipierten Artikel zur Internetbenutzung schrieb. Zu jener Zeit gab es noch kaum Literatur zum Internet; Einführungen für Anfänger fehlten fast völlig. Da Pollys Aufsatz ,Surfing the Internet‘ kurz und überblicksartig gehalten war, verbreitete er sich sehr schnell über das Internet und wurde in viele Sprachen übersetzt, so daß der Begriff Internet-Surfen nahezu weltweit in viele Sprachen einging. Wie kam Jean Polly selbst auf diese Metapher? Auf ihrer Homepage schreibt sie: ,In casting about for a title for the article, I weighed many possible metaphors. I wanted something that expressed the fun I had using the Internet, as well as hit on the skill, and yes, endurance necessary to use well. I also needed something that would evoke a sense of randomness, chaos, and even danger. I wanted something fishy, net-like, nautical.‘ Laut Polly sprachen zu jener Zeit noch viele Menschen im Zusammenhang mit dem Internet vom ‘Graben’ oder ‘Fischen’, doch drückte dies für sie nicht den ,fun‘ aus, den sie selbst bei der Benutzung des Internet empfand. Sie suchte nach einem adäquaten sprachlichen Bild, das sowohl Spaß als auch Ausdauer, Können und eine gewisse Gefahr transportierte. Bei ihren Überlegungen fiel ihr Blick auf das von ihr benutzte Mousepad, das einen Surfer auf einer riesigen Welle darstellte – für Polly bildeten die Eigenschaften dieser Sportart ein exaktes Äquivalent zu ihren Erfahrungen bei der Internet-Nutzung.“


Mir persönlich, der sich so gut wie gar nicht auf einem Surfbrett imaginieren kann, gefällt das Bild des Flaneurs besser, das durch Walter Benjamin in seinem „Passagenwerk“ geprägt wurde: der Flaneur streift als einzelgängerischer Stadtwanderer ohne Ziel durch die Straßen und Gassen, schlendert über Plätze und durch Gebäude, immer auf der Suche nach interessanten und aufschlussreichen Kleinigkeiten, stellt überraschende Zusammenhänge zwischen Phänomenen unterschiedlicher Herkunft und Größenordnung her und reflektiert seine eigenen Beobachtungen. Das Komplexe und das Einfache, das Erhabene und das Triviale, das Große und das Kleine kommen einem beim Flanieren gleichermaßen bemerkenswert vor. Wohin immer man gelangt, hat man etwas gelernt.


Und wohin hat mich mein heutiges Flanieren geführt? Auf die Seite unserer Bundesregierung. Eine Seite, die ich nicht ohne weiteres planvoll aufsuchen würde. Aber beim ziellosen Schlendern kann man sich hier plötzlich einfinden. Und wird mit einem Aufmacher „in eigener Sache“ überrascht.


Wenn eine Regierung etwas in eigener Sache verkündet, sind wichtige Informationen über die Regierung selbst zu erwarten: Regierungsumbildungen? Kanzlerinnenrücktritt? Schwere Erkrankung der Gesundheitsministerin? Weit gefehlt. Wir Bürgerinnen und Bürger werden aufgefordert, das „Foto des Jahres 2006“ zu wählen. Und das schon im ersten Jahr, nachdem wir diese Regierung gewählt haben. Wir kommen aus dem Wählen gar nicht mehr heraus. Und müssen uns zwischen [12 Bildern](http://www.bundesregierung.de/nn_1264/Content/DE/Fotoreihe/2006/2006-12-20-Foto-des-Jahres/kanzlerinfoto-des-jahres-2006.html) entscheiden, die aus fotografischen Dokumentationen von „bis zu 1000 politischen Ereignissen“ ausgewählt worden sind, natürlich exklusiv und nur für uns. Unter denen, die an der Wahl teilnehmen, werden übrigens drei Fotobände mit Politikerfotos verlost. Toll, so etwas könnte vielleicht auch wieder die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen erhöhen. Vielleicht ein Testballon für neue Wahlverfahren?

Das allerschönste ist, dass man bei jeder Entscheidung für ein Bild sofort sehen kann, mit wieviel Prozent der Mitwähler man übereinstimmt. Auch das sollte man als eine Innovation für die nächste Bundestagswahl ins Auge fassen. Doch nun zu den Fotos selbst. Es handelt sich um 12 Fotos von - ähem…, Tusch, Augen auf: Angela Merkel, unserer Kanzlerin. Zweimal sind auch der Vizekanzler, einmal der Bundespräsident versehentlich ins Bild gerutscht. Ansonsten unsere liebe Angie auf stinknormalen Agenturfotos mit den wichtigsten Männern der Welt: Bush, Chirac, Kaczinski und auch mal ganz alleine mit dem offiziellen WM-Fußball. Was will uns diese Auswahl sagen? Um schöne Fotos geht es zweifellos nicht (sagt mir ein guter Freund, der sein Geld als Fotograf verdient). Also muss es sich bei den abgebildeten Fotos um Bilder von den Ereignissen des Jahres handeln. Man riecht förmlich den Schweiß, der bei der Auswahl der Ereignisse aus bis zu 1000 politischen Ereignissen geflossen sein muss. Welches Ereignis stellt das Portrait der Kanzlerin (Foto) vor einem Portrait von Konrad Adenauer (Gemälde) dar? Bei welchem Ereignis war „die Kanzlerin im Gespräch mit Arbeitsminister Müntefering und Wirtschaftsminister Glos“? Und gab es auch noch Ereignisse, an denen Frau Merkel nicht beteiligt war? Es bleibt eigentlich nur eine Antwort: Frau Merkel war das Ereignis des Jahres - und auf den restlichen 988 Fotos wird sie auch abgebildet gewesen sein.


Ich entscheide mich für Foto Nummer 3 vom Treffen des ´Weimarer Dreiecks´ im saarländischen Mettlach mit den Präsidenten Chirac und Kaczynski Anfang Dezember, das am lustigsten ist und dreierlei zeigt. Erstens: die Gerüchte, dass Kaczynski etwas kartoffelähnliches anhaftet, sind nicht unberechtigt. Zweitens: Frau Merkel synchronisiert sich körpersprachlich - vielleicht aus spontaner Zuneigung oder aus schier strategischen Erwägungen heraus - ebenfalls zu etwas kartoffelähnlichem. Und drittens: Jacques Chirac hat derweil schon wieder völlig anderes im Blick (vielleicht ein Gratin?). Leider sind nur 4% der mitwählenden Bundesbürger meiner Meinung, dass dies das schönste Bild ist. Ich bin nicht bereit, dieses Votum hinzunehmen . Vielleicht helfen Sie als Blog-LeserIn ein wenig nach? Der Demokratie zuliebe? Gemeinsam könnten wir die Sache drehen. Immerhin haben erst 1286 Wähler abgestimmt. Aber wenn ich es mir recht überlege, stimmt das dann doch gegen eine Änderung des Wahlgesetzes.


Also flaniere ich lieber weiter und lande schließlich doch noch auf einer Seite mit [attraktiven Politikerfotos](http://bushorchimp.com/), die darüber hinaus starke Belege für die Evolutionstheorie anbietet. Abgebildet ist hier der amerikanische Präsident, der ja bekanntermaßen kein Freund der Evolutionstheorie ist. Allerdings ist er ein Freund des Internet und gewissermaßen selbst ein Flaneur, wie er in einem CNBC-Interview offenbart: Maria Bartiromo: "I'm curious, have you ever googled anybody? Do you use Google?" President Bush: "Occasionally. One of the things I've used on the Google is to pull up maps. It's very interesting to see -- I've forgot the name of the program -- but you get the satellite, and you can -- like, I kinda like to look at the ranch. It remind me of where I wanna be sometimes." --interview with CNBC's Maria Bartiromo, Oct. 24, 2006 (und das Ganze [hier auf Video:)](http://www.youtube.com/watch?v=lJ0BtSLD3sc). Good night and good luck :-)