Integral

Eben schlag ich den Duden von 1990, Bd. 5 auf und lese unter „integral“ folgendes: „ein Ganzes ausmachend; für sich bestehend.“ (S. 353) Mich interessiert jetzt vor allem die erste Bedeutung. Wann ist etwas ganz? Im gestrigen Beitrag zur Intuition wurde auch durch die Kommentare deutlich, dass Ratio und Emotion/Intuition als getrennt wahrgenommen werden. Sie sind also offensichtlich – zumindest in der Wahrnehmung vieler – nichts Ganzes. Da gibt es die eine Seite und die andere. Nach meiner Erfahrung und Einschätzung wurde, vor allem historisch durch die Aufklärung begründet, die eine Seite, die Rationalität, respektive Vernunft und Verstand, in unserer Gesellschaft besonders gefördert und geachtet. Dies hat seinen Wert, zweifelsohne, wir leben in einer menschenwürdigeren Welt als vor 500 Jahren.

Wir (beschränken wir uns auf Europa) verbrennen keine Hexen mehr, haben unsere Lebenserwartung deutlich angehoben und führen im allgemeinen ein wesentlich bequemeres Leben als ehedem. Wir genießen Technik, die zuvor undenkbar war: Ich möchte meinen elektrischen Herd nicht missen, auch nicht meine Zentralheizung (ab 2008 heizt dann zusätzlich ein Kamin ;-), noch mein Telefon und all die anderen Errungenschaften dank der Aufklärung.


Andererseits zahlen wir dafür einen Preis, der allmählich anfängt teuer zu werden. Wir verdrängen das, was wir im Vergleich zur Vernunft als geringeres Gut betrachten: unsere Emotionen, unsere Intuition und Spiritualität: „Religion ist Opium fürs Volk.“ Die deutsche Kirchenflucht und der gleichzeitige Boom von leicht konsumierbaren Ersatzreligionen (Pop-Buddhismus, wie das ein Freund von mir nannte) und irrationalem esoterischen Humbug erinnert uns daran, dass etwas aus dem Lot gerät. Sinnfragen erscheinen unendlich naiv und/oder idealistisch, so dass die Zwangsjacke nicht mehr fern ist. Dank Rohypnol, Haldol, Leponex und Co. lässt sich der Wahn indes schon austreiben. Aber auch der Irrsinn ist doch etwas erträglicher geworden, immerhin gibt es keine Narrenschiffe mehr und auch keine Eisbäder. Aber der Sinn ist hin. Schließlich wissen wir (seit Kafka?), dass es sinnlos ist, den Sinn zu suchen. Eben unvernünftig. Allein: Es gibt sie nicht, die einzigartige Vernunft. Wir leben in einer Welt vieler Rationalitäten und wer sagt, welches die richtige ist? Bei genauem Hinschauen haben wir also nicht nur die andere Seite verdrängt, sondern auch die eine in viele zerteilt. Was droht ist ein unendlicher Regress, ein Rationalitäten-Hopping von hier nach da und dort, ohne zu wissen, welche Vernunft die vernünftige ist. Für jedes Argument gibt es ein ebenso plausibles Gegenargument. Klimawandel: ja und nein. Atomenergie: sicher und nicht sicher. Intoleranz mit Intoleranz begegnen: hilfreich und nicht hilfreich. Und so weiter und so fort. Bis in alle Ewigkeit.


Kein Entrinnen? Wenn es richtig ist, was ich behauptete, dass Ratio und Emotion/Intuition nur die semantische Trennung einer neurologischen Ganzheit ist, gibt es vielleicht doch eine Chance. Was aber, wenn es stimmt, was Sylvia Taraba in ihrem Kommentar schrieb, nämlich das wir die Unterscheidung treffen und damit kreativ werden? Was wenn beides stimmt – was ich glaube? Unter diesen Vorzeichen komme ich zu folgendem Ergebnis:


*„Integral“ heißt allen Phänomenen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken.*


Ich habe geschrieben, Worte genutzt, Unterscheidungen getroffen, meinen Verstand bemüht (zumindest mehr oder weniger). Das Ergebnis: Schwarze Buchstaben, die Sie auf einem weißen Bildschirm lesen und die in Ihrem Kopf wiederum zu Gedanken verbunden werden (nein, sie sind beileibe nicht allein die Akteure, Ihr Unbewusstes denkt mit und schickt Ihnen den einen oder anderen Gedanken, den Sie dann durch Ihr -->„Ich!“<-- okkupieren). Aber ich habe es auch fließen, Unbewusstes aufsteigen lassen, habe mich zum Diener meiner Gedanken gemacht, die mehr sind als ich selbst. Habe Gedanken ohne Denker niedergeschrieben, habe gefühlt und geahnt.


Die Lösung klingt so simpel. Und sie ist genauso einfach und wie unendlich kompliziert. Allem die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken ist ein Lebensweg, kein Todo auf einer Liste.


Herzliche Grüße,

Andreas Zeuch


P.S.: Auf meinen i-Pod könnte ich schon verzichten, da hat Steve Jobbs gepfuscht.