Innensicht der Psychose

Wer in eine Psychose rauscht, verhält sich so, dass die Menschen in seiner Umgebung ihn nicht mehr verstehen. Während Neurotiker (z.B. die berüchtigten Lehrer mit Orgasmusschwierigkeiten) sich unauffällig verhalten und  in einer Weise leiden, dass dies für andere nachfühlbar ist, scheitert auch der Bemühteste und Empathischste daran, sich in einen Menschen in der Psychose einzufühlen. Sein Fühlen (soweit aus seinen Äußerungen darauf zu schließen ist) scheint unangemessen, d.h. qualitativ und/oder quantitativ nicht zur Situation zu passen (gemessen an den sozialen Erwartungen): zu stark, zu schwach... Und die geäußerten Gedanken zeigen Beziehungssetzungen, die der im sozialen Umfeld akzeptierten Logik des Folgerns widersprechen. Und argumentieren kann man mit ihm auch nicht, denn ein Wahn ist nicht falsifizierbar, ganz im Gegenteil, wer versucht, jemandem seine Paranoia auszureden, wird in sie eingebaut, wird zu einem der Feinde oder Verschwörer... Folge: Die Kommunikation bricht ab, bzw. wer psychotisches Verhalten zeigt, wird exkommuniziert, oder besser noch: das Verhalten wird exkommuniziert, d.h. ihm wird abgesprochen bedeutungsvoll zu sein, und daher wird versucht, es  zu erklären (meistens durch hirnphysiologische Störungen), statt es zu verstehen (was als Erklärung m.E. weder ganz falsch noch ganz richtig bzw. einfach zu schlicht ist, aber das ist ein anderes Thema).


All dies sind nur kurze, skizzierende Bemerkungen darüber, wie psychotisches Verhalten von außen gesehen wirkt. Wer etwas über die Innenperspektive, das Erleben eines Psychotikers, erfahren will, der sollte von Thomas Melle das Buch "Die Welt im Rücken" lesen. Der Autor ist ein arrivierter Schriftsteller, der nicht nur eine ansehnliche Karriere als Autor aufzuweisen hat, sondern auch eine nicht minder beeindruckende Psychiatriekarriere. In diesem Buch schildert er autobiographisch mit der Kompetenz des Schriftstellers, wie er seine psychotischen Episoden erlebt hat. Das ist dicht, geht unter die Haut, eröffnet den sonst kaum zu erlangenden Zugang zur Innenperspektive des Autors in seiner psychotischen Phasen und zu seiner dann für andere nicht-verstehbaren Art des Beobachtens, Urteilens, Handelns...


Meines Erachtens Pflichtlektüre für jeden, der in der Psychiatrie arbeitet oder mit Psychotikern zu tun hat (wobei ich jetzt nich zwischen Psychoseformen unterscheide, da mir das Konzept der "Einheitspsychose" am plausibelsten erscheint) ...