Individualität und Verantwortlichkeit

Meine lange Antwort auf Ihre Kommentare, Lieber Herr Isermann, lieber Herr Liebscht, ist vielleicht schon Überfluss, aber bestimmt nicht müßig. Deswegen stelle ich sie hier nach vor.


Ich finde dass Sie mit Ihrem Zukunftsentwurf und Ihres Ihnen vorschwebenden Vater-Ideals beide unglaublich auf Kurs sind. Ich finde nicht, dass Ihr jeweiliges Problem ein Problem ist, sondern ein ganz normaler eingebauter Zweifel, der, wie jeder Zweifel, durch Mut heilbar ist.


Und ich gebe Ihnen unbedingt Recht, dass Mut nötig ist, eine Familie zu gründen, und die welche das tun tatsächlich große Anerkennung verdienen. Allerdings, das darf man nicht vergessen, haben das alle Eltern aller möglichen Zeiten vor Ihnen auch schon so gemacht...es ist nur heute nicht unbedingt schwieriger, sondern schon fast wieder unvergleichlich anders.


Auf die mündige Form freiwilligen Zusammenlebens in Form der lebenslangen Liebesgeschichte, lassen sich nun seit einigen Generationen, sagen wir seit der Romantik, zunehmend mehr Menschen ein. Sie inspirieren einander gegenseitig und alle anderen Verzweifelten, die von der Aufklärung abrupt in die Eigenverantwortung entlassen wurden und die wechselnden Herausforderungen überwältigend finden und vielfach oder zunehmend daran scheitern oder darüber beklagen....


Verzweiflung ist der Begriff dessen, dass wir in die Kreativität der konditionierten Koproduktion augenblicklich kein Vertrauen haben.


Ihre eigene Gelassenheit Herr Isermann, beziehungsweise Ihre schrägen Kabarettdarbietungen im Stricklieslverfahren, Herr Liebscht sprechen ja dafür, dass Sie selbst genügend Distanz zu den Widerwärtigkeiten nehmen und deshalb auf dem Weg sind, sich kreativ eingelassen zu haben.


Wohl nur mit individueller Souveränität wird die Umwertung der Umwelt von Gesellschaft zum kreativen Potential der Gesellschaft gelingen.


Realistisch zu sein ist gut, kreativ zu sein ist besser - könnte man sich selbst zuflüsten, um auf die Schiene zu kommenn.


Zum Problem der Beschleunigung und den beschleunigenden „Dingen“. Einmal abgesehen vom Computer, als dem effektivsten persönlichen Zugang zur (virtuellen) Welt, muss man den hinterhältigen Verschleiß der „Dinge“ ja nicht unbedingt jede Saison mitmachen. Denprogrammierten Sollzusammenbruch kann man durch Qualitätskauf vermeiden. Als Konsument kann man (unter anderem) entscheiden, auf zuviel Verschleiß zu verzichten. Als Mensch ist man prädestiniert zu warten. Man kann gediegene Käufe fürs zumindest halbe Leben tätigen, die jedenfalls von so ausreichender Qualität und Schönheit der Form sind, dass man noch Jahre davon glücklich profitieren kann und gar keine neuen WILL. So vermeidet man zugleich unnötigen Abfall.


Man kann sich persönlich verlangsamen, auf vielen Gebieten. Leider vergißt man das oft.


Ich möchte einen konstruktiven Exkurs dranhängen Mein Impetus liegt nicht darin, moralisch zu sein und Moral zu predigen. Aber an Vernunft und gesundem Menschenverstand, daran bin ich höchst interessiert, vor allem aber daran, was Systemtheorie und Konstruktivismus auch an praktischem Werkzeug bieten, individuelles Handeln bewusst konstruktiv zu machen, statt sehenden Auges destruktiv zu enden.


Mich wundert es, dass nicht mehr Konsens darüber besteht, dass die Welt so ist, wie wir sie uns ausdenken, entsprechend beforschen, wie wir darüber erzählen, reden, schreiben und sie - so - handelnd zu dem machen, was sie zu sein scheint...


Wem nicht passt, wie ihm die Welt gerade erscheint, der ist berufen, sich selbst zu ändern,beziehungsweise sein Denken zu ändern. Wenn alle, denen an der Erscheinung der Welt etwas nicht passt, zunächst bei sich etwas ändern, besteht die Wahrscheinlichkeit allmählichen Anderswerdens der Erscheinung der Welt.


Das hängt manchmal oder oftmals mit dem Denken und Wahrmachen des freiwilligem Verzichts zusammen. Gerade Verzicht ist aber eines unserer massivsten TABUS.


Statt dass wir darüber einen persönlichen Konsens suchen, uns zurückzunehmen, wollen wir unsere verschwenderische Lebensweise in die ganze Welt exportieren. Wenn nicht wegen des Profits, so allgemein verständlicherweise, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Warum nicht für sich selbst gleich neue, andere erfinden? Nischen schaffen? Klein anfangen? Warum nicht persönlich Verantwortung übernehmen?


Wer den Konsumterror und seine Zerstörung von Ressourcen nicht will, der KANN nur bei sich anfangen. Das ist eine ungeliebte Wahrheit. Sie ist das Maximum an Radius, das man hat, um etwas zu ändern. Ist es nicht besser, sich etwas abzugewöhnen und etwas Neues zu erfinden, statt von Unerwartetem geändert zu werden?


Und noch: Das Problem des Wissenstransfers im Unterschied, zwischen Eltern und noch-nicht-Eltern, nutzbar zu machen…das geschieht auch nur dann, davon bin ich überzeugt, wenn individuelle Verantwortlichkeit als maßgebend anerkannt wird.


Komischerweise sind wir fasziniert von den Segnungen der Globalisierung, reklamieren sie für alles mögliche und kehren dabei die persönliche Verantwortlichkeit sang und klanglos unter den Teppich. Ist das vielleicht das eigentliche Ziel und Resultat der Globalisierung?


Individuelle Verantwortlichkeit heißt: Wenn kreativ darüber gesprochen und geschrieben wird, und wenn die notwendige sozialpolitische Umwertung eingefordert wird. Wenn also der Konsens der Reproduktion erneuert wird, nämlich wie man Menschen macht und dass dies ausschließlich in konditionierter Koproduktion erfolgt und was die unabdingbaren Bedingungen und Verbindlichkeiten des Mensch-Werdens sind. Die Bedingungen und Verbindlichkeiten sind uns bekannt.


Möglicherweise geschieht dies erst dann, wenn Medien eines Tages herausfinden, dass Kinderkriegen cool oder hipp ist – wenn man nicht, wie gesagt, darauf vertraut, das Kinderkriegen ganz normal ist. Da es das seit ca. 40 Jahren nicht mehr zu sein scheint, erheben sich nun fünf nach 12h allmählich Stimmen....


Und noch etwas Persönliches. Ich wollte mit 14 oder 15 aus dem Bauch heraus (...) ein Haus voll Kinder. Tatsächlich zugelassen habe ich in meinem künstlerischen und wissenschaftlichen Elfenbeinturm dann nur eine Tochter (mit glücklicherweise bis jetzt zwei eigenen kleine Kindern). Warum?


Weil der Zeitgeist es mir erlaubt hat, ganz gedankenlos und ohne schlechtes, weil religionsgesteuertes Gewissen, die traditionelle Mindestkinderzahl mindestens zu halbieren. Ich bin also die Letzte, die ihre Stimme erheben darf.


Trotzdem nehme ich mir das Recht dazu, aus später Einsicht. Nicht gerade aus persönlicher Reue, ich hätte alles unter einen Hut kriegen können, was mir wirklich wichtig war, aber aus Bedauern über die Achtlosigkeit, Leichtfertigkeit, ideologische Verbohrtheit, Vor- und Rücksichtslosigkeit einer bestimmenden Mehrzahl der Menschen meiner Generation, mich eingeschlossen.


Wir waren revolutionär, unverzichtbar, gut und dabei meist vernagelt, wie unsere großen Geister und Vorbilder. Inklusive der verführerische Negativitäten flüsternden Simone de Beauvoir, meiner Übermutter mit 25. Ich bereue nichts, was meinen persönlichen Weg betrifft. Jedoch, hätte ich den erweiterten Horizont zugelassen, dass sich damals auch andere (welche?) intellektuelle und ästhetische Stimmen erheben hätten können oder dürfen, die mir klug oder weise vom Unsinn jedes Zeitgeistes erzählt hätten, und von dem, was ich heute über Verantwortung weiß, ich hätte viel früher gründlich nachgedacht über die Schere von Individualität und Verantwortlichkeit. So tu ich es aus meiner Erfahrung erst jetzt und erlaube mir davon zu sprechen.