In Hirnforschern blättern

Es ist nur eine Übung, nicht mehr, eine Art öffentliches Training, wenn man in einem Blog nachdenkt, über sich selbst, über die Welt, über den Unterschied. Und auf dem Weg zum Computer, auf dem Umweg, genauer gesagt, denn es geht einmal rund durchs Viertel, streichen die Füße durchs rote Weinlaub, das von ein, zwei, drei Häuserfronten gefallen ist.


Auch die Finger streichen, durch Seiten streichen sie, Buchseiten. Querblätternd durch Psychoanalyse und Hirnforschung, Beiträge filternd für eine umfangreiche Arbeit zur Hypnoanalyse; genauer gesagt, für eine Neubegründung der Hypnoanalyse, die, wenn Träume recht haben, im kommenden Jahr zum Verlag gehen und im Jahr danach auf dem Markt erscheinen wird.


Ja, die Hirnforscher. Von Buch zu Buch durch ihre Gehirne zu blättern, in die Gyri zu schauen, die ganz eigenen Abgründe bei jedem. Einer scheint den meisten freilich gemeinsam zu sein, jedenfalls wenn ich den öffentlichen Verlautbarungen traue. Da gibt es eine Krankheit des Empfehlens, des Der-Kultur-etwas-Aufnötigens, für die ich noch einen Namen suche... Eine Art Bestimmungswut, könnte man sagen, einen missionarischen Eifer, der ans Hellingerhafte grenzt.


Insbesondere geht es da ums Frühfördern von Kindern: In möglichst zartem Alter sollten ein, zwei Fremdsprachen gelernt werden, Musikinstrumente, dann den Sport nicht vergessen und - natürlich - die Logik, das Zeichnen, alles früh zu unterstützen bzw. zu fordern, damit die entsprechenden Verbindungen im Hirn sich ausformen bzw. ausfiltern können (je nach Sichtweise).


Das Erschütternde ist, dass man lange suchen muss, ehe man auf so schöne Dinge wie Bindungsfähigkeit, Zärtlichkeit und das Vertrautwerden mit dem Alleinsein stößt, von wilden oder zärtlichen Gefühlen und von Autonomie (eine schöne Verbindung) ist da auffallend selten die Rede, von der Ausbildung solcher Fähigkeiten hingegen zuhauf, die einen vielfältig verwendbar machen im globalen Kapitalismus und die aufs Allerfeinste jene Elternängste ansprechen, die gegenwärtig so verbreitet sind: Dass aus dem Kind nichts werden könnte, weil es zu dumm, zu wenig kosmopolitisch, unsexy und sportlich minderbegabt zu allem Überfluß auch kein Musikinstrument beherrscht und am Ende - na wem? - dem Computer verfällt, der es in seine Spinnenfäden kleidet.


Mir ist vor diesem pädagogischen Gedröhn der Regisseur Terry Gilliam lieb, der eben seine "Brothers Grimm" ins Kino stellte und dafür von den Feuilletons meist verrissen wird. Gilliam meinte in einem Interview, dass es die Langeweile sei, die mitunter fehle, das Nicht-von-außen-stimuliert-Sein, aus dem dann ganz von allein die Kreativität erwachse. Yeah, Terry, wunderbar, vielen Dank! Ein Kind, einfach mit sich oder mit einer geliebten Person drumherum - und zurück in die Lehrbücher mit jener Frühförderung, die sich doch als Spiegelung des alten bürgerlichen Ideals erweist, nach dem man von allem ein bisschen gelernt haben sollte, aber nach Möglichkeit nichts radikal ausgeprägt. Eine Welt ohne Romantiker und Kunstschaffende, ohne spinnerte Forscherinnen und leidenschaftliche Tramps... Dafür dann alle "International Management" studiert, alle im Call-Center sitzend mit der Fanta in der Hand, und die Hirnforschung, inzwischen völlig verhirnt und graue Statue geworden, nickt dazu, was aber bloß aussieht wie das Wackeln eines greisen Kopfs, der nicht mehr richtig auf dem Hals sitzen will.


Ich will ihn mit Weinlaub bekränzen, diesen Wackelkopf, aber nicht, weil er mir so viel Achtung abnötigte, sondern weil ich den Eindruck bekomme, dass diesen nüchternen Repräsentanten der Wissenschaft ein, zwei Vollräusche pro Woche nicht schaden könnten. Das wird ein paar Neuronen kosten, keine Frage, aber dafür laufen vielleicht die Traummaschinen wieder an und wir sehen ein paar erhobene pädagogische Fingerchen weniger. Ihr klingt mitunter reichlich frühgefördert, liebe Herrschaften in den Labors, und so sei Euch eine aufpeitschende Pubertät gewünscht, mit allem, was der liebe Gott und die bürgerliche Erziehungsideologie verboten haben...