Impressionen

Heute, Samstag, waren wir (das sind in diesem Fall meine mannigfaltigen Ichs sowie mein Mann und meine kleine Tochter, glücklich schlafend in ihrem roten Buggy) am Nachmittag im Museumsquartier. Zunächst im Leopold Museum - seit gestern läuft dort die Sonderausstellung "Impressionisten aus dem Pariser Musée D'Orsay". Es ist eine der teuersten Ausstellungen, die je in Österreich zu sehen war. Kaum hören wir Paris und es geht um Kunst, stehen wir schon in der Schlange. Wir lieben beides.


Zudem gibt es kaum Orte in einer Großstadt (wobei mir Wien eher wie eine Kleinstadt vorkommt), die so beruhigend und entspannend wirken wie Museen, Kirchen oder psychiatrische Einrichtungen. Ich kann diese Oasen der Ruhe (dicke Wände, wispernde Stimmen, andächtige Blicke, monotone, schlurfende Schritte...) zu Meditationszwecken wärmstens empfehlen. Ein Mauna-Spaziergang ist nichts dagegen.


Nach dem Leopold-Museum chauffierten wir unsere immer noch schlafende Tochter ins MUMOK (Museum Moderner Kunst) - die Gunst der Stunde nutzend. Moderne Kunst hat zudem den Vorteil, dass sie realistische Gedanken („Ist ein Sackerl und bleibt ein Sackerl“) vornehm zu vergeistigen vermag. Wie ist es schließlich zu erklären, dass für Malerei die rein materialistisch betrachtet meist aus nicht viel mehr besteht als aus einem Stückchen Stoff, Papier oder Holz und mehr oder weniger vielen Farbtüpfchen, horrende Summen bezahlt werden? Sind die Gemälde etwa an sich wertvoll, ist Ästhetik eine inhärente Eigenschaft eines Gegenstandes? Oder aber verschmilzt das Können des Malers, seine geistige Virtuosität mit Materie? Und ist es das, wofür bezahlt wird? Dann bleibt also gleichsam etwas Materielles am Kunstwerk kleben, quasi ein unsichtbarer Schweißabdruck des Künstlers? Sollte dies *nicht* der Fall sein, bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als seinen Materialismus nachhaltig zu vergeistigen.


Ich fühle mich nach dem Besuch des MUMOK jedenfalls regelmäßig angestachelt, auch künstlerisch tätig zu werden. So experimentierte ich am Heimweg mit der komplexen Farbkonstellation „Schwarz auf Schwarz“, was schließlich eine schwarze Leinwand zur Folge hatte und bezifferte das Werk schüchtern mit 20.000 Euro. Im Sinne des Depressionsbarometers finde ich vielleicht für meine „schwarze Serie“ gerade in Deutschland hungrige Abnehmer?


Aber im Grunde genommen, habe ich freilich eine Vermutung: Es scheint so zu sein, dass wir kraft unseres Geistes Materie wertvoll und bedeutsam werden lassen, ihr einen Wert beizumessen lernen, indem wir in einer bestimmten Kultur heranwachsen und unseren Blick zu schulen lernen. So ist ja auch ein Geldschein im Grunde genommen nicht mehr als ein Stück Papier. Sein Wert hängt mit jenem sozialen Gefüge zusammen, in welchem er gebraucht wird. Und scheinbar „objektive“ Wertgegenstände wie Zinshäuser, Armbanduhren oder Golddukaten werden ebenso nach bestimmten Kriterien taxiert, wobei sich die Kriterien laufend verändern; in etwa in jener Geschwindigkeit, in der einem das Geld gewöhnlich aus der Hand fließt.


Aber zieht man zu Illustrationszwecken die klassische Moderne heran, etwa die Zeichnung „Die Schwebende“, eine schlichte Studie zum „Fakultätsbild Medizin“ von Gustav Klimt (nicht im MUMOK zu sehen allerdings, sondern in der [Albertina](http://www.museum-prints.com/product_details.php?id=116&lang=de&pagenum=1&q=klimt)

so könnte man meinen, dass die wenigen Linien an sich ästhetisch sind, dass sie an sich eine Spannung und Erotik in sich tragen.

Und doch können selbst wenige Linien von Betrachtern ganz unterschiedlich interpretiert werden. Man möchte es kaum für möglich halten, dass diese Zeichnung wegen allzu großer Freizügigkeit auf Ablehnung stoßen konnte. Alice Strobl (1980) bemerkt:


*Dieser 1898 vorgelegte Kompositionsentwurf begegnete bei den Kunstkommissionen des Unterrichtsministeriums und der Universität den meisten Einwänden. Es machte sich der Wunsch „nach einer decenteren, weniger zu Widerspruch und obscönen Scherzen neigenden Haltung der die „leidende Menschheit“ charakterisierenden weiblichen Figur in der Mitte, eventuell nach Ersetzung dieser Figur durch eine Jünglingsgestalt geltend.*


Für den heutigen Betrachter erscheinen die selben Linien möglicherweise alles andere als obszön, als hätte sich nicht nur der Maßstab verändert, sondern mit diesem auch gleich die nur scheinbar objektiv vorhandene Skizze.


Wir lernen zu sehen, wir lernen unsere Welt zu formen und nach bestimmten Kriterien zu taxieren. Und haben wir einmal Kriterien etabliert und diese in unsere Welt projiziert, so neigen wir dazu, sie von unserem subjektiven Verhalten abzulösen und „objektiv“ werden zu lassen, ihnen ein „Eigenleben“ zuzuschreiben, als wäre Ästhetik eine Objekten innewohnende Eigenschaft. Und doch fließt und wandelt sich selbst Ästhetik unaufhörlich. Was ich heute schön finde, finde ich morgen (vielleicht) schon nicht mehr schön (und vice versa).


Wir können schließlich selbst ein aufgeklebtes, umgedrehtes Plastiksackerl der Marke „Billa“ als Kunstwerk schätzen lernen. Marcel Duchamp, Großmeister des „ready made“, brachte es sogar fertig, ein Pissoir als Kunst zu [begreifen](http://www.beatmuseum.org/duchamp/fountain.html) sowie den Betrachter von der Ästhetik des Objektes zu überzeugen.


Die Adelung ganz alltäglicher Objekte ist stets von Zeremonien begleitet, und sei es nun, dass Werke in führenden Galerien ausgestellt werden und schließlich an Museen und Sammler zu adäquaten Preisen verkauft werden. Hilfreich ist es auch häufig, sich selber als Künstler in Szene zu setzen – jedenfalls aber nicht locker zu lassen, selbst wenn der Erfolg Jahre auf sich warten lassen sollte. Realisten wollen liebevoll umschmeichelt werden, aber der Umerziehungsprozess gestaltet sich bisweilen etwas langwieriger.


Wir erheben mittels unseres Geistes etwas zu Kunst, wir umspielen Objekte, wir kreieren eine Aura um sie herum und wir messen schließlich diesem unserem Spiel einen nicht geringen Wert bei. So zeigt sich, wie man mittels seines (gratis erworbenen) Geistes innerhalb kürzester Zeit reich, glücklich und schön zu werden vermag.