Im Dienste der Beziehung zur Tochter mit einem Mann schlafen

Weil ich noch für Ordnung in meiner Praxis sorgen wollte und zwischenzeitlich richtig Lust aufs Webloggen hatte (das verschlingt ja doch eine Menge Zeit), kam ich relativ spät zu Hause an. Um ehrlich zu sein: heute morgen um 1.30 Uhr. Wie gesagt, wir leben auf einer Baustelle, d.h. keine Klingel, zur Zeit noch bis morgen kein funktionierendes Telefon. Beim Versuch ins Haus zu kommen, stellte ich fest, dass meine Frau den Hausschlüssel in der hofseitigen Türe hat stecken lassen. So bin ich zur straßenseitigen Türe gegangen. Mit dem gleichen Ergebnis. Die Fenster unseres Schlafzimmers zeigen unglücklicherweise genau zum Hof des Nachbarn, so dass ich mich auch nicht durch kleine an die Fensterscheibe geworfene Steinchen bemerkbar machen konnte.


Die Konsequenz war: Ich musste im Auto übernachten. Bei den toskanischen Temperaturen (gestern war der heißeste 8. September seit über 100 Jahren – warum wohl?) ging das ja auch ganz gut, zumal ich auch noch zufälligerweise einen Baumwollschlafsack dabeihatte. Um halb sieben befreite Anette, meine Frau, mich dann aus meiner misslichen Lage. Es war ihr offensichtlich sehr peinlich und da sie beteuerte, wie Leid ihr das tat, konnte ich ihr nicht besonders böse sein. Noch hundemüde genoss ich wenigstens noch ein paar Stunden ein richtiges Bett. Natürlich hörte ich den Wecker nicht und kam 20 Minuten verspätet zu einer Supervision in einer psychiatrischen Einrichtung, die sich in der Nähe der polnischen Grenze befindet. Der Grund meines Zuspätkommens stimmte meine Supervisand/inn/en gnädig und sorgte zudem für Erheiterung – auch kein schlechter Einstieg.


Geschildert wurde mir dann eine 51-jährige Frau, nennen wir sie Frau Schneider, die seit drei Jahren bereits wegen einer schweren Depression (Schlaflosigkeit, Unruhe, Jammern, etc.) mit einer Benzodiazepin-Abhängigkeit in verschiedenen psychiatrischen Kliniken be-handelt wurde, sich zudem in einer ambulanten Psychotherapie befand und auch vor ein paar Monaten in der Einrichtung meiner Supervisand/inn/en gewesen war. Es habe ihr da ganz gut gefallen. Lebensgeschichtlich lässt sich das Eintreten der depressiven Beschwerden damit erklären, dass die Tochter von zu Hause ausgezogen ist und sie praktisch zeitgleich als Arzthelferin arbeitslos wurde. Von ihrem Mann hatte sie sich bereits Jahre zuvor scheiden lassen. Weil sich in der Psychotherapie keine Besserung zeigte und vermutet wurde, dass der Psychotherapeut ebenfalls an seine Grenzen gestoßen war und die als sehr unbequem (fordernd) und nervend beschriebene Frau hätte loswerden wollen, habe er sie nochmals auf die Einrichtung meiner Supervisand/inn/en verwiesen. In der ersten Woche gestaltete sich der Aufenthalt noch relativ unproblematisch, doch dann wurde es – wie geschildert – immer unerträglicher, ja für manche Mitarbeiter/innen – insbesondere für die systemisch ausgebildete Einrichtungsleiterin – richtig quälend, weil nichts vorwärts ging. Im Gegenteil: Frau Schneider ging es kontinuierlich schlechter.


Frau Schneider beschäftigte sich sehr mit ihrer Tochter, die sich sehr verantwortlich fühlte und nun die Mutterrolle für ihre eigene Mutter einnahm. Fast jeden Tag rief Frau Schneider ihre Tochter mehrmals an, der es – wie wohl jedem anderen Menschen auch in dieser Situation – schwer fiel, sich abzugrenzen; denn es ging der Mutter ja schlecht. Den Mitarbeiter/innen zeigte sich das Muster, dass Frau Schneider durch ihr Schlechtgehen quasi den Kontakt zu ihrer Tochter intensivieren konnte und ihn sogar erzwang. In der Arbeit mit Frau Schneider erlebten sie sich missbraucht; denn hier fühlten sie sich auch verpflichtet, sich mit Frau Schneider zu beschäftigen, die beständig darüber klagte, wie schlecht es ihr ginge und ob sie ihr nicht mehr bzw. andere Tabletten geben könnten. Aufgrund der vorhergehenden Tablettenabhängigkeit versuchten die Mitarbeiter/innen ihr ohne Erfolg das auszureden. Auch Anregungen in Richtung Lösungsorientierung (Frage nach Ausnahmen) verpufften. Das Gefühl, dass Frau Schneider die Mitarbeiter/innen absichtlich auflaufen ließ, und ihr „Jammern“ strategisch einsetzte, um Tabletten und Zuwendung zu bekommen, verstärkte sich, so dass insbesondere bei der Einrichtungsleiterin massiver Ärger auf Frau Schneider entstand. Die anderen Mitarbeiter/innen hatten ebenfalls wenig Lust, mit Frau Schneider zu arbeiten. Diese ablehnende Haltung, die anscheinend Frau Schneider nicht entgangen war, verschärfte nun wiederum die Niedergeschlagenheit von Frau Schneider, so dass es zu einer weiteren Umdrehung der Eskalations-spirale „Klagen – Zuwendung (lösungsorientierte Anregungen) – Frustration aufgrund der Erfolglosigkeit des Vorgehens – Ärger – Klagen“ kam.


Jetzt war die Frage: Wie man mit dieser für beide Seiten unbefriedigenden Situation umgehen sollte? Zunächst schien es mir wichtig zu sein, Anregungen zu geben, dieses Muster zu verändern, was jedoch auch nicht so ohne Weiteres möglich war; denn zum einen habe ich als Supervisor immer leicht reden: Ich brauche mich ja nicht mit Frau Schneider zu beschäftigen. Das teilte ich dem Team auch mit. Auch nähme ich wahr, dass es ja wirklich ein schwieriges und zur Zeit unmögliches Unterfangen sei, bei Frau Schneider den Fokus der Aufmerksamkeit auf positive Erlebensweisen bzw. ihre Kompetenzen zu lenken.


Zunächst bot ich deswegen an, davon abzurücken, dass sich etwas verändern müsse, sondern dass es erst einmal darum ging, die Sichtweise auf Frau Schneider zu verändern.


1. Ein Mittel dafür sei es zu unterstellen, dass das Verhalten von Frau Schneider vollkommen unwillkürlich sei, also weder strategisch noch absichtsvoll eingesetzt wird.

2. Dann sei die Frage, wie man Frau Schneider noch beschreiben könne, damit wieder eine positivere Beziehungsgestaltung möglich sei, nach dem Motto von Juppy (UFA-Fabrik, Berlin-Tempelhof): „Man kann die Welt nur verändern, indem man sich die Menschen so zurechtliebt, wie man sie gerne hätte.“

3. Es lässt sich davon ausgehen, dass die Gefühle, die während des Kontaktes mit Frau Schneider entstehen, z.B. Hilflosigkeit, Ungeduld, Sich-gequält-Fühlen (Prinzip der Isomorphie) einen Hinweis auf das aktuelle Erleben von Frau Schneider geben. Durch diese Sicht lassen sie sich nutzen, indem diese Hypothese Frau Schneider angeboten wird, was mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass sie sich zumindest mehr angenommen fühlt.

4. Der Ärger auf Frau Schneider ist ein wichtiger Hinweis, auf Bedürfnisse, was gebraucht wird, damit sich der Kontakt befriedigender gestaltet. Es lässt sich dann sagen: Damit ich Sie bei Ihrem Aufenthalt hier hilfreich für Sie sein kann, brauche ich ihre Mitarbeit. Wären Sie bereit mir diese zu geben?

5. Frau Schneiders (symptomatisches) Verhalten verführt dazu, sich so zu verhalten, dass man die Symptomatik anregt, also unruhig (ungeduldig) wird, wenn Frau Schneider sich unruhig (ungeduldig) zeigt. Günstig wäre es deswegen dieser Verführung nicht zu erliegen, sondern sie wahrzunehmen und dann ganz willkürlich in die entgegengesetzte Richtung zu gehen: Sich Zeit lassen. Jetzt muss sich noch gar nichts tun.


Folgende Hypothesen in der Beziehungsgestaltung schienen mir wahrscheinlich:


1. Je schneller man Veränderungen bei Frau Schneider anregen möchte, umso unwahrscheinlicher werden sie: Langsamer ist schneller. (nach Weakland, der sinngemäß gesagt haben soll: „Willst Du in der Therapie ganz schnell vorwärtskommen, gehe ganz langsam vor.“

2. Je heftiger man Frau Schneider loswerden will, umso länger wird sie bleiben. Oder umgekehrt: Je offener Frau Schneider von den Mitarbeiter/innen empfangen wird, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Einrichtung bald verlassen kann.

3. Im Verständnis des Problembereichs liegt zunächst der Lösungsansatz, nicht im lösungsorientierten Vorgehen. Anregung für den Aufbau einer von Frau Schneider positiv erlebten Beziehungsgestaltung.


Weiter beklagten sich die Mitarbeiter/innen darüber, dass die Ziele von Frau Schneider darin lägen, einmal mehr und stärkere Medikamente zu bekommen und die Tochter – durch ihre Symptomatik – an sich zu binden. Und genau hier liegt ja der Lösungsansatz (Aikido-Methode: Die Kraft bzw. Wirklichkeitskonstruktion des Gegenübers zu nutzen, um auf weitere Lösungsideen zu kommen):

Angenommen, Sie hätten genau die für Sie richtige Tablette bekommen, was wäre dann anders? Woran würden Sie (Ihre Tochter) es merken?

Angenommen, Sie könnten wählen: Drei Kontakte zu Ihrer Tochter, bei denen es Ihnen und infolgedessen Ihrer Tochter schlecht geht oder ein Kontakt, bei dem Sie und Ihre Tochter sich richtig wohlfühlen, was würden Sie bevorzugen?

Wenn Sie etwas (unabhängig von Ihrer Tochter) tun, wodurch es Ihnen weniger schlecht oder vielleicht sogar gut geht (zum Beispiel eine Bekannte treffen), dann tun Sie immer auch etwas für Ihre Tochter, denn die Beziehung gestaltet sich dann zu ihr mit großer Sicherheit befriedigender. (Idee: Sie verlässt die Tochter, um bei ihr zu bleiben.)


Zum Schluss schoss mir folgender Gedanke in den Kopf, den ich auch mitteilte und der bei meinen Supervisand/inn/en große Erheiterung auslöste: Frau Schneider sucht sich einen Mann und schläft mit ihm, aber natürlich nur im Dienste der Beziehung zu ihrer Tochter.