Im Auge des Taifun

In einer halben Stunde ist es so weit. Im österreichischen Fernsehen wird das ausgestrahlt, was der ORF seit gestern einfach mit „20.15 – Das Interview“ ankündigt. Mehr Information ist auch nicht nötig – ganz Österreich weiß, was gemeint ist.


Vor zwei Wochen konnte eine junge Frau, die als 10jährige entführt worden war, ihrem Entführer nach 8 Jahren Gefangenschaft entkommen. Die Polizei informiert, erste Nachrichten in den Medien, der Entführer begeht Selbstmord – und dann vom einen Gefängnis, dem fensterlosen Kellerraum, ins andere Gefängnis: Abschirmung vor der weltweit angelaufenen Medienmaschinerie. Reporter aus Chile und Kanada sollen gesichtet worden sein, Millionenbeträge für „das erste Foto“, das erste „Exklusivinterview“ geboten worden sein. Das Computerbild von Natascha, generiert aus einem alten Kinderfoto und Verwandten-Fotos, wird, in Ermangelung eines Echtfotos, in der Zwischenzeit zum bekanntesten Gesicht der Nation.


Wer die ersten Interviews mit den Eltern gesehen hat – Sozialvoyeurismus in den Hauptnachrichtensendungen des öffentlichrechtlichen Rundfunks (nur schade für das katholische Österreich, dass die Eltern mittlerweile getrennt sind und nicht gemeinsam Freudentränen vergießen) – wer also das gesehen hat, der kann nachvollziehen, dass des Schutzes bedarf, wer vom öffentlichen Mitgefühl und vom öffentlichen Mitleiden-Wollen bedroht ist.


Doch es wird auch klar, dass hier durch Verstecken nichts zu gewinnen ist. Auch ohne greifbare Natascha Kampusch geben Psychologen Auskunft über ihren vermutlichen Zustand, spekulieren Expertinnen über die Psychostruktur ihres Entführers und die vermutliche Beziehung von Täter und Opfer, wird als Ausgleich für die Abwesenheit der Hauptfigur jedes Detail, dessen die Öffentlichkeit habhaft wird, ausgeschlachtet, wird klar, dass sie ihr Leben lang Jagdobjekt von Paparazzi sein würde.


Zwei Wochen lang Jugendpsychologinnen, einvernehmende Polizei, Medienberater. Und dann der Entschluss, sich dem Unvermeidlichen zu stellen, den Stier bei den Hörnern zu packen, vom Phantom zur greifbaren Person zu werden: Gestern Aufzeichnung eines Fernseh-Interviews zur Ausstrahlung heute abend. Und Interviews für zwei Zeitungen, die morgen Erscheinungstermin haben. Am Abend noch ein seltsam selbstreflexiver Akt der Medien: ein Interview des Interviewers, um dem wartenden Publikum zumindest einen Vorab-Happen zu liefern. Denn wann immer das Interview stattfand – es war der Startschuss für einen Wettlauf, den die Zeitungen offensichtlich gewonnen haben: Die Abendausgaben werden bereits auf den Straßen verkauft, das Bild auf der Titelseite, „Das große Interview“ als Schlagzeile. Das Internet voll von Natascha-Fotos.


So sitze ich und frage mich, warum jetzt auch ich über Natascha schreibe. Vielleicht weil mir die Frau Respekt abnötigt. Weil sie offenbar mit der gleichen Entschlossenheit, mit der sie nach 8 Jahren eine Chance zur Flucht genutzt hat, nun versucht, im Auge des Taifuns rund um sich kühlen Kopf zu bewahren und das Steuer nicht aus der Hand zu geben. Jetzt, wo sie ihr Leben selbst in die Hand genommen hat.