Ich assoziiere, also bin ich......

Also gut, es muss sein, ich habe zugesagt, eine systemische Kehrwoche zu übernehmen.

Noch vor kurzem hätte ich dies nicht für möglich gehalten, aber dies ist meine letzte Vorlesungswoche an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die Verabschiedung in den Gremien und der offizielle Teil mit Laudatio durch einen langjährigen Kollegen sind auf eine angenehme und unerwartet gute Art und Weise überstanden. Bernhard Trenkle würde bemerkt haben. „Es ist schon erstaunlich, wie viel Lob ein einzelner Mensch ertragen kann.“ Es ist ja auch besser jetzt dieses Ritual anzunehmen als bei der eigenen Beerdigung. Liebe Kollegen haben mir das Büchlein ‚Heine für Gestresste’ geschenkt, ein heimliches Blättern während einiger Dankesworte führt mich zu der Aussage des Dichters „Warum jetzt widersprechen – in wenigen Jahren bin ich tot, und dann muss ich mir alle Lügen ja doch gefallen lassen.“ Die Kehrwoche also als Übergangsritual von der lebensphase2 zu web2


Nur, mit Verabschiedungen, Tagebüchern und vor allem Kehrwochen habe ich so meine Probleme, schon gar als Nicht-Schwabe und nur aus dem Ruhrgebiet zugereister Nordbadener. Was also? ‚Alles muss raus’ oder das sparsam schwäbische Herausputzen des eigenen Vorgartens und der dazu gehörenden öffentlichen Straßenfront (unser Dorf soll schöner werden)? Finde ich hier meinen roten Faden, der mich sicher durch die Kehrhäufchen zwischen Exhibitionismus und larmoyanter Selbstfindung führt. Kann ich all die anderen kleinen Verunreinigungen wie Selbstbeweihräucherung, Geschwätzigkeit und Besserwisserei eines älteren Herrn möglichst unauffällig unter den Rasenteppich kehren?


Und dann auch noch eine systemische Kehrwoche. Brauche ich da einen besonderen Besen und ist es meine Aufgabe, - mit diesen spezifisch systemischen Grundhaltungen, (sie wissen sicher was ich meine) auf besondere Häufchen zu achten und diese zu entsorgen. Und wieso entsorgen? Was, wenn ich den von allen monierten Dreck nun so neu verteile, dass er auch vor den gestrengen Augen der (viel schwäbischeren) Nachbarn als Beitrag zur Verschönerung des Dorfes anerkannt wird. Soll ich vielleicht das, was ich an Kehrwendungen vollführe (der erste Calauer) in systemischer Terminologie beschreiben oder reicht es, wenn ich einfach so dahin formuliere?


Fragen über Fragen. Und wie bei Fragen so üblich, schon werden bei mir Suchprozesse ausgelöst: Ich fühle mich irgendwie dazu aufgefordert den emotional-kognitiven Exhibitionisten in mir näher kennen zu lernen. Was will er von mir preisgeben? Was von meiner Familie? Von meinen Freunden? Wird er nur meine alte Tante Klara zitieren, deren Aussagen sich schon viele Studenten anhören mussten (z.B. „Nur wer die Form beherrscht, darf sich darüber hinweg setzen,“ wenn sie mich beim Essen beobachtete). Ich habe mich doch bisher standhaft geweigert, ein Tagebuch zu schreiben - andererseits habe ich es vielen heranwachsenden Klienten in unterschiedlichen Variationen empfohlen. Ist das nun ein Widerspruch, dem ich nachgehen sollte? Kann mir da jemand helfen? Kann vielleicht dieses Tagebuch dazu führen, dass ich in den Antworten Einladungen zu weiterer Selbstvergewisserung finde? Schaffe ich es dann, wie im richtigen Leben, mit einer gewissen ironischen Distanz und Schnoddrigkeit meine schriftlichen Versuche der Identitätsentwicklung zu kaschieren? Darf ich in meinem Alter überhaupt noch den Anspruch haben, meine Identität entwickeln zu wollen? Oder reicht eigentlich so ein bisschen Selbstvergewisserung?


Meine Sorgen möchte ich haben!! Erleichtert und gerade noch rechtzeitig lese ich das Interview des „Medienphilosophen“ Bolz im Spiegel (Nr. 29, S. 68) unter der Überschrift „Exhibitionismus – leicht gemacht“ und wenn ich das richtig verstehe, gibt es im web2 vielfältige Möglichkeiten, sich zu verstecken, auch wenn nun (bisweilen) „die Schamgrenzen der Selbstdarstellung weg (fallen) “. Aber so etwas passiert doch nicht in diesem Carl-Auer-weblog, oder? Und ich will ja auch keinen systemischen Entwicklungsroman schreiben oder ein Drama meines Ringens um meine systemische Wirklichkeit.


Welche Form wähle ich also? Die Lektüre von Aphorismen hat mir stets besonderen Spaß bereitet, diese strukturierten und metaphorisch bestimmten Assoziationen. Nach meiner Wahrnehmung tauchen sie im web2 als Clip-Kultur wieder auf: Assoziationen, Zustandsbeschreibungen, Momentaufnahmen mehr oder weniger verfremdet, überzeichnet, spielerisch distanziert, ohne unverbindlich zu sein. Verschriftlichte Video-Clips also, an den Schamgrenzen manchmal auch als Graffitti auf Klowänden sichtbar.


Weblog bei Carl Auer ist sicher etwas, das leicht und geistreich daher kommt (ich spreche jetzt von meinen bloggenden Vorgängern) – und ich spreche von all den bisherigen Erfahrungen, die ich mit dem Verlag hatte. Und vielleicht - schon wieder werden Suchprozesse in mir ausgelöst - war ja auch der eigentliche Antrieb, bei dieser Kehrwoche mit zu machen, der Wunsch, sich einer solchen Community verbunden zu fühlen.

Aber ach, soll ich jetzt sagen, ich werde ab jetzt leicht und geistreich schreiben, das ist doch sehr bemüht und als Vorsatz schon zum Scheitern verurteilt.


Clip-Art als assoziative Gedanken zum Tage - und dann soll das Ganze auch noch Spaß machen? Wem? Mir natürlich! Wenn mir ein Therapie-/Beratungsgespräch weniger Spaß macht als dem Klienten, so meine ich u.a. Gunther Schmidt verstanden zu haben, dann habe ich etwas falsch gemacht. Und wer möchte als bekennender Konstruktivist schon gerne etwas falsch machen.


Und so, wie mir das Lesen von Aphorismen Spaß macht, bereitet mir das Assoziieren Vergnügen. Assoziieren verzeiht die Vergesslichkeit (und Geschwätzigkeit) des Alters, man fragt nicht, hab ich das nicht gerade schon mal assoziiert, man sagt sich selten: so, jetzt reichts aber, es geht gewissermaßen rund, strukturdeterminiert kann es zwischen den Ohren ja nur rund gehen, irgendwann assoziiert man nicht mehr, es assoziiert einen und man kann – Voraussetzung für manche Art Meditation- sich beim Assoziieren zuschauen. Und wenn es dann so richtig rund geht, nehme ich häufig, in mich gekehrt (der zweite Calauer) bei mir diesen besonderen glücklichen Gesichtsausdruck wahr, den ich schon bei vielen anderen beobachtet habe: Einmal bei einem Hammel, der sich offensichtlich gerade überlegte, ob er mal strullen müsse, manchmal bei einem nahen Familienangehörigen, wenn er liest, und ich dann irgendwie eifersüchtig auf die Autoren werde und auch damals mit Bernhard Trenkle, als wir uns in Banyuls-sur-mer Gedanken machten, ob man – mit Blick aufs Mittelmeer- nicht mal Kurse im Mediterranen Dösen anbieten solle.


Meine Kollegin Angela, das weibliche Pendant zu Ericksons My Friend John, sagt zunehmend häufiger: „Also manchmal weiß ich überhaupt nicht mehr, wovon du sprichst, ist das wieder eine deiner Trance-Induktionen“? Und ich sage dann: „Nein, das dient, wie Medienphilosoph Bolz sagen würde, meiner Identitätsentwicklung und Selbstvergewisserung. Nehmen wir einmal an, wir säßen jetzt nicht in der Mozartstr. 22 sondern in web2. Du könntest dich dem ganzen Gerede entziehen. Nichts würde dir aufgedrängt. Ich müsste mich nicht schämen. Kein Assoziieren im Zwangskontext“. Wie man sieht, gehen wir wertschätzend miteinander um. Aber manchmal kommt auch Tante (the late) Klara hinzu und ich höre sie wie vor 50 Jahren sagen: "Junge lies nicht so viel, in deinem Kopf muss noch Platz für das Lernen übrig bleiben". Und sie machte mir damit ähnlich Angst wie weiland die Broschüren am Kircheneingang, die vor den Gefahren des Onanierens warnten, Und jetzt sagt sie: "Junge, schreib nicht so viel, die anderen sollen schließlich auch noch was denken". Und das macht mich dann ähnlich unsicher wie der Prof. Bolz im Spiegel, wenn er vor dem Exhibitionismus in web2 warnt. Und ich höre mich antworten: „Mal sehen, was passiert, vielleicht trägt ja all das innerhalb einer Woche zur Identitätsentwicklung und Selbstvergewisserung bei und außerdem, liebe Tante Klara, sagtest Du doch immer: Wer die Form beherrscht, darf sich darüber hinwegsetzen“. Und sie antwortet mir (sie muss immer das letzte Wort haben): „Nur, sagte ich. Nur wer die Form beherrscht, darf sich darüber hinwegsetzen“.

Also gut, ab morgen geht’s rund