HOMMAGE an das THEATER

Manchmal sehne ich mich so nach dem Theater !


Vor vielen Jahren war es einfacher: Wir hatten ein Abonnement und mussten einfach hin. Jetzt schaffen wir es kaum noch, uns aufzuraffen und Karten zu besorgen. Der berufliche Alltag und viele andere Termine vereiteln jeden Versuch. Meine Sehnsucht nach dem Theater wird dadurch eher potenziert. Vielleicht ist es ein ganz archaisches Bedürfnis. Ein gleiches Verlangen trieb oder lockte vermutlich die Griechen in ihre großen Amphitheater, um einer Tragödie beizuwohnen. Felix SCHOTTLÄNDER meinte, es gäbe so etwas wie ein dramatisches Bedürfnis, welches nach Befriedigung verlangt, und da das tägliche Leben zuweilen in eher ruhigen Bahnen verläuft, sehnt man sich nach aufwühlender Dramatik.


Ich glaube, es ist noch etwas anderes: Ein Verlangen nach authentischem Erleben in einer Zeit, welche an Authentizität verloren hat – in einem „dramatischen“ Ausmaß.


Theateraufführungen gehören zu den nachhaltigsten Erfahrungen meines Lebens; ich kann mich noch an viele erinnern, auch wenn es vor 50 Jahren gewesen sein sollte. Meine Theaterzeit begann in Kassel. Wenn ich doch nur einmal den Schauspielern von damals erzählen könnte, welchen Eindruck ihr Spielen in meinem Gedächtnis hinterließ ! Manche Namen kennt man noch: Hans Korte war damals in Kassel, auch Witta Pohl und Charlotte Kerr, Luise Glau und Martin Hirthe. Kurt Maisel und Arno Holtzmann (hieß er Arno ? Ich muß noch einmal in den alten Programmen blättern.) habe ich in München kennengelernt. Diese Liste ließe sich verlängern.


Ein Abend im Theater ist mit nichts anderem zu vergleichen ! Nicht mit Kino, Fernsehen, DVD oder Video oder was es auch immer an medialem fast food geben mag. Es ist die Authentizität des Geschehens; zwar weiß man, dass alles gespielt, eben Theater ! Aber dieses Wissen ändert nichts an der Tatsache, dass man mit vielen echten Menschen in einem Raum etwas in einer Gemeinschaft erlebt, dass die Emotionen durch den Gleichklang der Seelen eine gewisse Verstärkung erlangen und dass sich eine wahrhaftige Beziehung der Schauspieler zu ihrem Publikum entfaltet.


An wirklich großen Theaterabenden entsteht eine gespannte Aufmerksamkeit, welche sich jeder kleinsten Regung widmet – im Publikum, auf der Bühne und im teilnehmenden Besucher selbst. Die Bedeutung der Zuschauer ist hierbei nicht zu unterschätzen; doch hängt auch der Zustand des Publikums ganz wesentlich von der Intensität und Authentizität der schauspielerischen Leistung ab, von der Fähigkeit des Schauspielers, auch an diesem Abend mit seiner ganzen Seele in den Worten und Gebärden präsent zu sein. Ich habe von Schauspielern gehört, dass dies nicht immer in gleichem Maße gelingt und dass auch für sie jede Aufführung anders und auf besondere Weise neu ist. Hier gibt es keine Fälschung – man weiß sich sicher vor allem „fake“ -, denn alle Dramatik wird erfahren vor dem Hintergrund des Wissens um das Artifizielle der ganzen Situation.


Ich erinnere mich an einen wundervollen Tag in München. Wir hatten – meine Frau Rosemarie und ich – eine BEUYS-Ausstellung in München besucht (seine Zeichnungen aus der Mongolei); hatten im Theatiner Filmkunst-Theater einen faszinierenden Film gesehen: „Warum Bodhidharma in den Orient aufbrach“ (seitdem einer meiner absoluten Kultfilme) und abends waren wir in den Kammerspielen.

„Das eben finde ich so wundervoll, dass kein Tag vergeht – um im alten Stil zu sprechen –kaum ein Tag, ohne irgendein Anwachsen des Wissens, so gering es auch sein mag, ich meine das Anwachsen, vorausgesetzt, dass man sich darum bemüht.“ Wir sahen Samuel BECKETTs „Glückliche Tage“. Es war reiner Zufall, dass alles mit „B“ anfing: Beuys, Bodhidharma, Beckett. Ich war überwältigt und haben diesen Einbruch emotionaler Erfahrungen in einem kleinen Gedicht zusammengefasst:


EIN TAG VOLLER GNADEN


Winnie’s Hügel im Innern der Mongolei

Warum Beuys in den Orient aufbrach ?

Bodhi-Dharma verbringt glückliche Tage

In der Einsamkeit und Stille der Wüste


„Objekte“ der Kunst

wie abgestoßene Organe

von dumpfen Schmerzen begleitet

so als gehörte das Leid einem andern


Erdhorcher in der Wüste

Auf Winnie’s Hügel das lauschende Ohr,

um zu hören die Marter des eigenen Herzens

verlassen vom Licht des Mondes


Doch plötzlich – mit dem Verlöschen des Lichts

Wird sichtbar in der weglosen Wüste

Und im tränenden Auge des Rinds

Der Pfad –


Zum Frieden des Geistes in achtsamer Güte

Wo uns Winnie’s Liebe umfängt

Nähren die Flammen des Todes die Hoffnung

Dass aus der Asche entstehe ein neuer Schirm.


„Wieder ein glücklicher Tag“, sagt Winnie. „Das eben finde ich so wundervoll, dass kein Tag vergeht – um im alten Stil zu sprechen – ohne irgendeine verkannte Gnade.“


Ganz ähnlich ist es manchmal im Konzertsaal. Heute abend (d.h. gestern abend; ich schreibe immer nachts) brachte der hr2 eine Aufzeichnung des Konzertes vom 24. März 06 in der Alten Oper Frankfurt. Wir hatten dort einen ganz und gar außerordentlichen Abend erlebt. Hilary HAHN spielte Schönbergs Violinkonzert. Nur wer auch dabei war, weiß, worüber ich schreibe. Seit langem schon war der große Saal der Alten Oper in der Reihe der hr-Sinfoniekonzerte nicht mehr so voll gewesen. Es war manchmal so still im Saal – niemand schien zu atmen, während Hilary Hahn spielte. Tausende waren nur Ohr -. und Auge: Es ist wichtig, dass man die Musiker, Solisten und den Dirigenten auch sieht.

Diese gerichtete Kraft gespannter Aufmerksamkeit ist gleichsam das Medium, in welchem sich die Musik dehnt und entfaltet und zu einer kollektiven Erfahrung höchster Intensität wird. Und all dies basiert letztlich auf der Kraft des Fühlens und Denkens des Solisten und natürlich auch des Dirigenten und der anderen Musiker. Im günstigsten Fall – an den ganz großen Abenden – werden all diese Komponenten als eine Einheit empfunden: ein holonisches Erleben ! Es gab nicht mehr den geringsten Unterschied zwischen Hilary Hahn und Schönbergs Musik, zwischen dem Klang im Raum und den Gefühlen der Menschen im Raum.


Ich hörte vorhin die Aufzeichnung des Konzerts im Autoradio; es war etwas anderes; es fehlte die Authentizität der Erfahrung, das Einmalige und Echte des Ortes, der Zeit – und es fehlte das offenbar an die leibliche Anwesenheit der Künstlerin gebundene Feld ihrer geistigen Energie.


Ich bin nicht gerade ein Fan von Schönbergs Musik. Mein Zugang zur Musik ganz allgemein ist recht einfach: Sie muß mir gefallen. Ein theoretischer Zugang zur Kunst der Komposition ist mir weitestgehend versperrt.

Während Hilary HAHN spielte musste ich an ein Gedicht von Christian MORGENSTERN denken:


WIND und GEIGE


Drinnen im Saal eine Geige sang,

sie sang von Liebe so wild, so lind.

Draussen der Wind durch die Zweige sang:

Was willst du, Menschenkind ?


Drinnen im Saale die Geige sang:

Ich will das Glück, ich will das Glück !

Draussen der Wind durch die Zweige sang:

Es ist das alte Stück.


Drinnen im Saale die Geige sang:

Und ist es alt, für mich ist’s neu.

Draussen der Wind durch die Zweige sang:

Schon mancher starb an Reu.


Der letzte Geigenton verklang;

Die Fenster wurden bleich und blind;

Aber noch lange sang und sang

Im dunklen Wald der Wind ...


Was willst du, Menschenkind ...


(Aus ‚Ein Kranz’, 1899-1902)


Überhaupt schien mir das Konzert eine ähnliche Situation zu beschwören: Ein Mensch in extremer Fragilität, in bis dahin nicht erlebter Verlassenheit und Einsamkeit, umgeben von einer als feindlich erlebten Welt, welche alles Leben zu zerstören droht.

Das Konzert entstand in einer Zeit des Umbruchs in der Politik und in der Kunst, nämlich zwischen 1934 und 1936. In einer solchen Zeit bedarf es höchster Anstrengung, einen Ort des Bleibens zu finden, auf dass sich das Schöne ereigne.

Und das Schöne geschah 70 Jahre später an einem Abend im großen Saal der Alten Oper in Frankfurt am Main.

„Das eben finde ich so wundervoll“ – um mit Winnie zu sprechen, dass es immer wieder Menschen gibt, die so ganz, so vollkommen in der Gnade leben, in der Gnade der Musen – so wie e.g. Hilary Hahn.


Mögen alle, die sich in wegloser, schrecklicher Wildnis finden –

Die Kinder, die Alten, die Ungeschützten, die Umnachteten-,

Von gütigen Himmlischen beschützt werden.


Bis morgen verbleibt – mit herzlichen Grüßen Ihr Jürgen Bohl