Gymnasium als Förderschule

Anmerkung: Leider habe ich aus Versehen den ganzen Beitrag vom 1. Mai 2008 mit Kommentaren gelöscht. Die Rekonstruktion ist natürlich nicht ganz perfekt. Aber bitte:


Es wirkt fast wie ein kleines Wunder, von dem Martin Spiewak in der aktuellen ZEIT (Nr. 19 vom 30. April 2008) berichtet: Ein Gymnasium mit dem Leitsatz „Alle kommen ans Ziel!“ statt der üblichen Selektion. Dabei hat das mittlerweile größte Gymnasium im Land Baden-Württemberg 1900 Schüler, von denen zum vergangenen Schuljahrbeginn gerade mal 5 zur Wiederholung eines Jahrgangs ansetzen mussten und ganze 10 weitere freiwillig zur benachbarten Realschule wechselten. Zum Schuljahrbeginn deshalb, weil dank einer besonderen Einrichtung, einer zweiwöchigen freiwilligen Sommerschule viele doch das Ziel der Klasse noch erreichten, die bei der Versetzungskonferenz zum Schuljahrende im Juli die für die Versetzung geforderten Leistungen noch nicht vorweisen konnten. Und das ist nur eine der Besonderheiten dieser Schule, die ich hier nicht alle aufzählen will und kann. Aber aufmerksam möchte ich machen auf dieses einzige Gymnasium, das im Dezember 2007 zusammen mit vier anderen Schulen den Deutschen Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung bekommen hat.


Das System einer Schule derartig radikal auf Erfolgskurs zu bringen, ist eine außerordentliche Leistung, die sicher das besondere Verdienst des dort seit 20 Jahren amtierenden Schulleiters Günter Offermann ist, aber gewiss nicht nur seines. Da müssen möglichst alle Kolleginnen und Kollegen mitziehen, und das will bei der Betreuung von 1900 Schülerinnen und Schülern etwas heißen. Hier übernimmt jede und jeder sein Stück an Verantwortung. „Wenn ein Schüler Probleme hat, müssen wir fragen, was wir anders machen müssen“, so der pädagogische Leitsatz des Schulleiters. Früh im Schuljahr, etwa zwei Monate nach Beginn, beraten die Klassenlehrer, um Risikofälle aufzuspüren und Maßnahmen zu beraten. So wird vermieden, dass die Kinder reihenweise erst in den Brunnen fallen, aus dem sie dann schwerlich gerettet werden können.


Es ist eine spannende Frage, was andere Schulen (und nicht nur Gymnasien) vom System des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Marbach am Neckar und von dessen Lehrerinnen und Lehrern lernen können, um umzuschalten auf einen eigenen Erfolgsweg und für diesen dann keine 20, ja nicht einmal zehn Jahre zu brauchen, sondern vielleicht die acht der heutigen Fünftklässler bis zum Abitur. Chapeau für Kollegen Offermann und das ganze Kollegenteam! Auf dass auch andere lernen an die großartigen Möglichkeiten ihrer Schüler (und Kollegen) zu glauben. Der Glaube kann also doch Berge versetzen.


Soweit der Originalbeitrag und hier die Kommentare:


1. Pädagogen sind wohl so etwas wie die Psychotherapeuten einer Gesellschaftsform. Sisyphosarbeit, die eigentlich nur ein Verückter annehmen kann, jemand der glaubt, keine Wahl zu haben, nicht weiß, worauf er sich einläßt oder irgendwelcher Privilegien wegen… In welche Schublade kann ich denn nun Sie einordnen? Irgendwie schaffen Sie es wieder mal mir meine schöne schlechte Meinung von den verzogenen Lehrern zu vermiesen. “Lernen zu glauben” … offenbar ein rund laufendes Bsp. für die Macht gewachsener Organisationskultur auf die Prägung soziabiler Charaktere.

Kommentar von Max Liebscht — 3. Mai, 2008 @ 16:23 Uhr

2. Ganz einfach, lieber Herr Liebscht: Versuchen Sie lieber nicht, mich in eine wie auch immer geformte oder genormte Schublade zu stecken. Dieser Bericht handelt ja nicht von einer Utopie, sondern von einer ein Stück Realität gewordenen Utopie. Diese Kolleginnen und Kollegen verdienen wirklich höchste Anerkennung, widerlegen sie doch nicht nur die sattsam bekannten Vor- und Fehlurteile über die menschliche Begabung und Lernfähigkeit, faule und ausgebrannte Lehrer, sie schaffen gar das Unmögliche einer nahezu 100prozentigen Erfolgsquote. In Deutschland, dem Jammertal in Pisazeiten. Und mit der eigenen Erfahrung von 25 Jahren Schulleitertätigkeit im Rücken kann ich, glaube ich, einigermaßen ermessen, welcher Anstrengung und welcher Glaubensstärke es auf der Seite eines Schulleiters wie Günter Offermann aus Marbach bedarf, um 20 Jahre und mehr an diese Möglichkeit zu glauben: Alle erreichen das Ziel. Glauben meine ich da nicht im religiösen Sinne, sondern im Blick auf die innere Überzeugung von den Möglichkeiten (Belief-Systems sagen glaube ich die Amerikaner dazu). Ich bin sicher, dass wir bald andere Schulverhältnisse hätten im Land, wenn nur jeder vierte oder fünfte Schulleiter (Männer wie Frauen natürlich), sich auf den Weg der Marbacher Kolleginnen und Kollegen machen würde. Wer war das doch, der da sagte: Seien wir Realisten, versuchen wir das Unmögliche? Richtig, der gute alte Ché Guevara.

Kommentar von Horst Kasper — 3. Mai, 2008 @ 17:55 Uhr

3. So wie es also stimmig ist zu sagen, “Die Eliten machen dieses Land kaputt.”, ist es Ihnen zufolge also auch möglich, es von daher aus der Strukturkrise als einer Folge der Wertekrise herauszulocken.

Russisch aber eben auch angloamerikanisch beeinflußt, unterscheide ich als NLP - Frosch natürlich nicht zwischen dem Glauben an die alleinseligmachende Kraft des “freien” Marktes und den Glaubensatzsubsystemen, daß wir auf einer Schildkröte herumlaufen, die auf einer Schildkröte steht, die auf einer … Sie “wissen” schon. Wozu auch? “Glauben heißt (in jedem Fall) nicht wissen.” höre ich meinen sarkastischen Großvater orakeln. Aber von mehr oder weniger konsistenten belief - Systemen mal abgesehen - macht dieses “Lernen zu glauben” lerntheoretisch bzw. epistemologisch zutiefst Sinn.

Irgendwo in Dresden hat sich mal ein katholischer Dozent so geäußert, daß creditability, also so etwas ähnliches wohl wie die Fähigkeit zu glauben, eine Art Grundvoraussetzung für Gesundheit, ja auch gleichmal noch für Menschsein sei. (Die Fähigkeit zu zweifeln, natürlich in ebensolchem Maße, wie ich dazufügen würde.)

Vor ein paar Tagen habe ich den Film über Janusz Korczak gesehen. Normalerweise nimmt man ja an, daß wenn man jemand zu einer Art Konvertierung (?) bewegen will, man selbst hinsichtlich seiner eigenen inneren Haltung besser auch an das glaubt, wofür man den anderen überzeugen mag. Seltsamerweise trifft man nun unter den Theologen die gemeinsten Zyniker. Braucht man nun als vorbildlicher Leiter den Glauben an eine Möglichkeit von Zukunft oder ist die Motivationsstruktur bspw. bei Ihnen so, daß man sich sagt: “Wo keine Hoffung ist, muß man sie erfinden?” So etwa nach “Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott.” ? Bei Märtyrern wie Korzcak habe ich den Eindruck, daß sie den Glauben beschwören, weil sie begriffen (zu) haben (glauben), daß es für ihn keine Berechtigung geben kann, außer in uns selbst, nur eben die meisten Lernenden diesbezüglich eher noch auf extrinsische Anreize angewiesen sind.

Was ist mit Ziel gemeint bei “Alle erreichen das Ziel.”? Der Abschluß? Sozialpsychologisch wirkt dieser Leitsatz vorbildlich gemeinschaftsfördernd, das muß ich schon sagen. Daß sich die Vision aber darin erschöpfen sollte, der Abschluß als die Verheißung auf eine lebensfrohe Zukunft verstanden wird, erschiene mir mehr als kleinbürgerlich naiv. Nonverbal käme das bei den Kids nicht als überzeugend rüber.

Ich persönlich komme in Verlegenheiten (die ich auch zugebe) wenn mich Schüler nach Möglichkeiten einer Zukunft fragen. Bspw. wenn Altenpflegeschüler, die in nach rationalistischen Gesichtspunkten ausgerichteten Heimen z.T. offenbar “verh.” werden, im Hinblick auf die gesellschaftlichen Tendenzen mit gutem Grund bezweifeln, daß sie selbst noch einmal gepflegt werden. Interessanterweise scheint die Ratlosigkeit, so wie ich sie zugebe, eher zu verbinden….

Aber die vorgegebenen Bildungsziele wirken in diesem Licht natürlich z.T. doch etwas wie eine Farce. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr Kollege ohne Vision auskommt, damit er seine Arbeit praktisch so gut machen kann. Wahrscheinlich ist er kriegsgeprägt und hat von daher noch die Power aus introjizierten überstandenen ökologischen Szenarien heraus, aus vergegenwärtigter Not, Utopien zu imaginieren und diese kraft dessen leichter zu realisieren. Bei dem Lernen zu glauben scheint bei mir das Lehrplanziel nicht erfüllt. Wie haben Sie das gelernt? Muß man schwere Zeiten überlebt haben, um sich (ökologischer) Utopien entsinnen und diese ins Werk setzen zu können?

Auch noch interessieren würde mich, wie Sie es zwecks guter Führung mit Zuckerbrot und Peitsche halten.

Kommentar von Max Liebscht — 3. Mai, 2008 @ 21:12 Uhr

4. Da hat wohl “irgendwo in Dresden … mal ein katholischer [, vermutlich zum Ablasshandel konvertierter] Dozent” versucht Herrn Liebscht neu-linguistisch falsch zu programmieren

indem er sich so geäußert hat, “daß crediTAbility, also so etwas ähnliches wohl wie die Fähigkeit zu glauben, eine Art Grundvoraussetzung für Gesundheit, ja auch gleichmal noch für Menschsein sei.”

Tatsache, ohne Kredit kann man sowieso nicht leben.

Kommentar von duscholux — 4. Mai, 2008 @ 09:27 Uhr


5. Jede Menge Fragen, lieber Herr Liebscht! Fangen wir bei der letzten an: Zuckerbrot und Peitsche, die klassische Dressur, war mir immer suspekt. Ich mag keine Peitschen, erst recht nicht in der Pädagogik. Gutes Zureden, Anerkennung und Respekt für jede Leistung schon. Ohne Autorität geht’s natürlich nicht, aber nicht mit der von Amts wegen. Regeln, Achtung der Regeln. Auch Strenge und Konsequenz bei Verstößen, aber immer mit der Chance auf gute Besserung, Einsicht usw.


Ich stimme nicht Helmut Schmidt zu, der mal meinte, wer Visionen hat, sollte zum Psychiater gehen. Konstruktivisten ohne Visionen wären wie Kapitäne ohne Kompass. Ich verstehe mich als praktischer Konstruktivist, wenn so etwas vorstellbar ist und fühle mich darin den Marbachern verbunden. Ihr Schulleiter hat am Beginn seiner 20jährigen Tätigkeit in diesem Job gewiss eine Menge an Visionen entwickelt. Dabei sind seine studierten Fächer – ausweislich der Lehrerliste seiner Schule, persönlich kenne ich den Kollegen nicht – Mathematik und Physik. Aber schließlich lehrte schon Einstein, dass Fantasie wichtiger sei als Wissen. Wie ich das gelernt habe, wollen Sie wissen. Ein Optimist war ich schon immer, obgleich in Kriegszeiten aufgewachsen. Was die Veränderung des Subsystems einer Schule mit Hilfe von klaren Vorstellungen angeht, habe ich seit der Zeit um 1980 selbst ausprobiert. Ich habe viel gelernt von den NLPlern und vom System der Suggestopädie von Georgi Lozanov. Nicht zu vergessen die Neurowissenschaften, deren Erkenntnisse ich versuchte und noch versuche in praktischer Pädagogik anzuwenden. Seitdem weiß ich, dass vieles möglich ist, wenn es gelingt, den Rahmen zu schaffen, Mitstreiter zu gewinnen und gut untereinander zu kommunizieren. Erfolge müssen sich in den Köpfen rundum verbreiten, dann wirken sie wie Sauerteig. Zuerst aber kommt die Suche nach immer neuen Möglichkeiten, das System der eigenen Schule anzureichern mit hilfreichen Ideen. Und es braucht Mut zu neuen Wegen. Aber: Wer lernt, hat Recht. Es gibt keinen besseren Beleg für das Funktionieren eines neuen Weges als seine Beherrschung, denke ich. Stressabbau gegen Versagensangst zum Beispiel, Entspannung als Lernfaktor, aber auch geschickte praktische Kniffe, die das lernbereite Gehirn stimulieren (ein großes Fass, kann ich Ihnen sagen). Wäre auch was für Ihre ökologische Psychologie ...


„Alle kommen ans Ziel!“ Damit ist das Schulziel Abitur gemeint. Angesichts der hohen Ausfallquoten – manche Gymnasien sondern noch immer die Hälfte und mehr der Kinder im Laufe der Schulzeit aus und jährlich verlassen rund 100000 junge Menschen die deutschen Schulen ohne Abschluss – ist das ein gewaltiges Versprechen. Dass es - in Verbindung mit einer Fülle praktischer Begleitmaßnahmen - möglich ist zu erreichen, zeigt die minimale Ausfallquote dieser Schule. 5 Nichtversetzungen bei 1900 Schülerinnen und Schülern am Ende des vergangenen Schuljahres, das ist eine tolle Erfolgsquote. Und die Marbacher sind noch nicht zufrieden damit und mit den 10, die außerdem freiwillig auf die Realschule gewechselt haben. Das baden-württembergische Zentralabitur für alle, die in Klasse 5 aufgenommen werden, das ist ein gewaltiges und sehr ehrgeiziges Ziel. Würden die Kollegen an dieser Schule am Sinn des Erreichens dieses Zieles zweifeln, wären sie fehl am Platz. Das Ziel der Schule zu erreichen ist das Eine, was man damit macht, das Andere.


Ich hoffe, damit Ihre Fragen, lieber Herr Liebscht, einigermaßen beantwortet zu haben und grüße Sie und auch "duscholux", dem ich noch immer für die Empfehlung der "NachDenkSeiten" dankbar bin.


Gruß,

Horst Kasper