Griechischer werden

Aus systemtheoretischer Sicht sind Grenzöffnungen immer sehr spannend. "Wer (zu oder völlig) offen ist, ist nicht ganz dicht", so lautet ja eine alte systemische Weisheit. Oder, um den von Ross Ashby geprägten Fachausdruck dafür zu verwenden: Es entstehen auf diese Weise leicht "too richly cross joined systems".


Ein gutes Beispiel ist die Einführung des Euro, wodurch die Grenze zwischen den Eurostaaten de facto in Bezug auf ihre intern verwendete Währung (und damit das Bewertungssystem) aufgelöst wurde. Früher konnte jedes Land in seiner Beziehung im Blick auf die Bewertung der eigenen oder fremden Produkte (bzw. der zu ihrer Herstellung notwendigen Leistungen) eine einseitige Veränderung der eigenen Währung/Bewertung vornehmen und damit die eigenen und fremden Leistungen auf- oder abwerten, d.h.im Tausch teurer oder billiger machen.


Als ich als Kind zum ersten Mal nach Italien fuhr, entsprachen 100 Lire noch 1 DM. Als der Euro eingeführt wurde, bekam man für 1 DM einen Betrag von 1000 Lire. So alt war ich inzwischen geworden, oder anders gesagt: So abgewertet war die italienische Währung inzwischen.


Für das Leben in Italien (oder eines der anderen mediterranen Länder) hatte das keine wesentlichen Konsequenzen. Die Inflation hatte für höhere Einkommen und Preise gesorgt, und durch die Abwertung der eigenen Währung wurden auch die deutschen Importprodukte teurer. Die Konkurrenz der inländischen Waren mit den deutschen konnte nicht über den Preis entschieden werden, sondern die Qualität war der Maßstab (im Idealfall).


Mit der gemeinsamen Währung hingegen werden die deutschen Produkte in all den Euro-Ländern billiger, in denen - wie es in der Zeitung so schön heißt - "über die Verhältnisse gelebt" wird und Inflation und Staatsverschuldung herrschen (weil mehr ausgegeben als eingenommen wird). Die inländischen Produkte verkaufen sich dort schlecht, die deutschen gut.


Folge: Die Deutschen nehmen viel Geld ein, die Italiener, Griechen usw. geben viel Geld aus.

Die Griechen müssen sich Geld leihen - und das tun sie bei den Deutschen. Denn die Leute am Mittelmeer - wir wissen es alle - leben gut, sind nicht so fleissig wie wir, machen einen Mittagsschlaf und trinken mehr Wein als wir. Die Deutschen hingegen sind sparsam, geben das Geld auf ein Sparkonto, gönnen sich nichts, schlafen nur selten - schon gar nicht mittags - und arbeiten viel.


Jetz kommt aber die Pointe: Das Geld, das die Deutschen gespart und dann - über ihre Bank oder Steuerzahlungen - an die südländischen Euroländer gegeben haben, ist futsch. Denn diese Länder können ihre Schulden nicht aus eigener Kraft zurück zahlen. Wir müssen es ihnen schenken und sie stützen, weil sonst unser eigenes Wirtschaftsmodell zusammenbricht (Export).


Dass die Deutschen jetzt von den Griechen fordern, sie sollten wie die Deutschen leben, scheint mir ziemlich irre.


Warum sollten sie auch? Ich finde es eine Zumutung, von jemandem, der es gelernt hat, die richtigen Prioritäten zu setzen (Lebensqualität an erster Stelle) zu fordern, sich einer zwangsneurotischen "Arbeit macht das Leben schön"-Ideologie zu unterwerfen.


Ganz im Gegenteil: Die Konsequenz muss sein, dass wir griechischer werden. Die mediterranen Trainings- und Studienaufenthalte großer Teile der Bevölkerung in den Sommermonaten belegen, dass Deutsche durchaus in der Lage sind, sich solch einem Lebensstil anzupassen. Ja, viele scheinen ihn sogar zu genießen...


Also: Im Inland brauchen wir höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten; die gesteigerte Produktivität sollte nicht allein einer höheren Kapitalrendite zugute kommen, sondern der Durchschnittsbevölkerung. Eine bezahlte tägliche Auszeit für die Siesta wäre auch empfehlenswert - was die Koch- und Essgewohnheiten angeht, sind wir ja schon auf einem ganz guten Weg.