Grenzen setzen

Ich sitze in der Strassenbahn. Vor mir zwei Jugendliche, ca. 15-jährig. Sie erzählen sich Einzelheiten aus der letzten Simpsons-Folge, offenbar mit hohem Unterhaltungswert. Sie lachen laut. Der eine klopft dem andern heftig auf die Schulter. Abschätziges Kopfschütteln im Bank vor den beiden Jungen. Ein älteres Paar scheint sich über das fröhliche Treiben hinter ihnen zu ärgern. "Stimmt etwas nicht", fragt der eine der Jungen - zumindest äusserlich ruhig. Er erhält keine Antwort. Der Mann murmelt etwas von "freches Saupack" zu seiner Frau. "Ach, leck mich doch am Arsch!", tönt's von hinten. Die Strassenbahn hält. Die beiden Jugendlichen steigen aus.


Jetzt geht's los: "Das ist doch keine Art", entsetzt sich eine Frau auf der andern Seite des Mittelgangs. "Ja, die Jungen haben einfach keinen Anstand mehr", pflichtet ihre Nachbarin bei. Ich werfe ein, dass die Jungen es ja nur lustig gehabt hätten und dass das mit dem "Saupack" ja auch nicht die feine Art gewesen sei. Obwohl offensichtlich schon der Jugend entwachsen, mache ich mich durch meine Bemerkung des Komplizentums verdächtig. "Ja, ja, das ist es genau: Immer alles einfach durchlassen. Die armen Kinder könnten ja Schaden nehmen, wenn sie mit ihren zarten Seelen mal einfach gehorchen müssten. So wie wir früher.", poltert der Mann. Seine Frau beschwichtigend: "Beruhige dich Anton" und zu mir: "Es ist doch schon so; man muss den Jungen doch einfach mehr Grenzen setzen. Das geht doch einfach nicht, wie die sich heutzutage aufführen."


Den Jugendlichen mehr Grenzen setzen! - Wie oft hört und liest man diese Forderung. Mit der gleichen Penetranz, mit der vor dreissig Jahren nach "Selbstverwirklichung" gerufen wurde, die durch die Erziehung nicht beeinträchtigt werden dürfe. Nur so könnten sich die Kinder und Jugendlichen zu verantwortungsvollen Mitglieder unserer Gesellschaft entwickeln. Gemeinsam ist diesen beiden pädagogischen Gemeinplätzen, die als "autoritäre" und "antiautoritäre" Erziehung einen scheinbaren Gegensatz bilden, dass sie in der Erziehungssemantik der Elternzeitschriften und der Diskussionen um die "Jugend von heute" immer wieder kommen und gehen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sich ihre Bedeutung in den jeweiligen Phasen mit einer erstaunlichen Eindeutigkeit durchsetzt: Heute ist "Grenzen setzen" angesagt. Wer nur schon die Frage gestellt, ob Grenzen nicht immer auch Freiheit bedingten, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, seine Kinder zu verweichlichen und für die Gewalt- und Drogenproblemen "unserer Jugend" zumindest mitverantwortlich zu sein.


Schaut man etwas genauer hin, wie "Grenzen setzen" im Alltag realisiert wird, dann trifft man oft auf den gleichen Mechanismus: Verbote aufstellen, bei deren Missachtung die "SünderInnen" zusammenstauchen oder strafen, und wenn das nichts wirkt: moralisieren. Alle, die Kinder aufgezogen haben oder aufziehen, wissen, wie schnell eine Grenze gesetzt, eine Strafe in Aussicht gestellt ist. "Wenn ihr jetzt nicht endlich ruhig sitzt, dann steigen wir auf der Stelle aus und gehen zu Fuss nach Hause!" Das wirkt. Manchmal. Wie oft ist es so, dass die Rangelei zwischen den Kindern munter weiter geht. Und wie oft sieht sich dann der Vater, die Mutter vor die Entscheidung gestellt, mit zwei schweren Einkaufstüten und drei quengelnden Kindern durch den Feierabendverkehr zu Fuss heimwärts zu streben. Wie viel einfacher ist es da, das Ende der Fahrt standhaft zu erdauern und mit der Wiederholung der folgenlosen Drohung den Lärmpegel der Kindern einigermassen auf einem erträglichen Niveau zu halten.


Jede Grenze beinhaltet die Möglichkeit ihrer Überschreitung und damit die Frage nach der zu erwartenden Sanktion. Damit wird die Last verteilt, denn die Sanktion ist nicht nur für die Sanktionierten ein Problem, sondern auch für die Sanktionierenden. Anders ausgedrückt: Grenzen setzen ist einfach, Grenzen durchsetzen nicht.


Soll man "den Jungen" einfach alles durchgehen lassen? Natürlich nicht. Grenzen sind wichtig - genau so wichtig wie die Freiheit. Grenzen und Freiheit sind keine Gegensätze; sie sind zwei Seiten derselben Unterscheidung. Sie bedingen sich gegenseitig. Freiheit ohne Grenzen gibt es genau so wenig wie Grenzen ohne Freiheit. Mit dieser Differenz umzugehen; ihre Gewichtung zu mehr Grenzen oder zu mehr Freiheit immer wieder neu zu beurteilen, das ist keine einfache Aufgabe. Es ist eine Aufgabe, bei der wir unsere Kinder und Jugendlichen unterstützen müssen; es ist aber auch eine Aufgabe, die wir ihnen nicht abnehmen können.

"Grenzen setzen" vereinfacht oder verkürzt Kommunikation nicht. Grenzen werden nur nachhaltig eingehalten, wenn die Grenzen von den Kindern und Jugendlichen zu eigenen Grenzen gemacht werden. Natürlich können unsere Verbote mit Sanktionsdrohung Wirkung zeigen. Aber gerade, wenn wir diese Chance auf Wirkung nicht untergraben wollen, müssen wir diese Form von "Grenzen setzen" sorgsam nutzen. "Grenzen setzen" bedeutet in der Regel: sich mit den Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen, sich auf sie einzulassen.


"Eigenverantwortung" heisst in diesem Sinn: sich selber Grenzen zu setzen - etwas, das auch uns Erwachsenen oft nicht leicht fällt. Exakt sind die Kinder und Jugendlichen auf unsere Unterstützung angewiesen - zuerst mit mehr Führung, mit steigendem Alter aber mit immer mehr Freiheit, die Grenze zwischen Grenzen und Freiheit selbst zu bestimmen. Und die Verantwortung für die Konsequenzen zu übernehmen.


Um "unserer Jugend" Eigenverantwortung zu lehren, braucht es vor allem zwei Dinge. Das erste wäre die Erkenntnis, dass die Freiheit der einen (z.B. in Ruhe Strassenbahn fahren zu können) sehr schnell zur Grenze der andern wird (der Kinder, die im öffentlichen Raum zumindest in unseren Breitengraden immer mehr zu stören scheinen), und dass sich Erwachsene darum viel öfters fragen sollten, ob sie Kindern und Jugendlichen Verbote auferlegen oder sie zurechtweisen, weil sie das für deren Entwicklung wichtig finden oder ganz einfach: weil sie ihre Ruhe haben wollen. Das zweite hängt eng mit dieser Erkenntnis zusammen: Wenn man den Freiheitsanspruch der Kinder und Jugendlichen anerkennt und entsprechende Einschränkungen in Kauf nimmt, dann begegnet man ihnen auch mit dem gebotenen Respekt. Gemeint ist keine belanglose Toleranz, die über alles verständnisvoll lächelnd oder gleichgültig hinweg sieht. Respekt bedeutet Zuhören, Auseiandersetzung, Ernst nehmen - gerade auch, wenn es um das Setzen und die Durchhaltung von Grenzen geht.